http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_45_1922/0117
MARMORKOPF EINER GÖTTIN IM
BERLINER ALTEN MUSEUM*)
Die römischen Kopien griechischer Bildhauerwerke
verlieren durch die eindringende Forschung
immer mehr an Glaubwürdigkeit; ihre
Stillosigkeiten werden immer deutlicher und unerträglicher
; immer mehr von diesen Erzeugnissen
handwerklicher Massenarbeit verschwinden
in den Magazinen der Museen. Es ist nicht
mehr das beherrschende Interesse der Forschung,
die auf uns gekommenen Monumente mit den
literarisch überlieferten Namen von Künstlern
und Kunstschulen zu verbinden. Man spricht,
vorerst noch scherzend,von derldee, antikeKunst-
geschichte ohne Künstlernamen zu schreiben. So
gewinnen die echten Zeugnisse griechischer Bildhauerei
an Wert; selbst unscheinbare Reste
werden in den Sammlungen ans Licht gerückt.
Ein Opfer der gelehrten Richtung in der
Altertumsforschung war der schöne Frauenkopf,
den wir hier zum erstenmal in würdiger Form
abbilden. Lange hat er unbeachtet gestanden,
kaum einmal ist er in der Literatur erwähnt
worden, keine kunsthistorische Kombination
knüpfte sich daran. Aber nun hat er unter
den wertvolleren Stücken der Berliner Antikensammlung
seinen Platz gefunden, und wir veröffentlichen
sein Bild wie das einer freudig begrüßten
Neuerwerbung**).
Eine Göttin ist dargestellt, nicht ein jugendlich
frisches Wesen wie Artemis, Aphrodite
oder Nike, sondern ein reifes Weib von mütterlicher
Art. Reiches Haar, über dem Scheitel
geteilt, über Stirn und Schläfen zurückgestrichen
und im Nacken zu einem Knoten zusammengefaßt
, umgibt das Haupt; starke gedrehte
Locken fallen auf die Schultern herab. Das
*) Siehe Abb. S. 88 u. 89.
**) Beschreibung der antiken Skulpturen Nr. 616. In Athen
erworben. 0,56 m hoch. Weißer parischer Marmor. Griechisches
Original.
Antlitz ist leicht zur Seite gewendet, die Augen
blicken aus tiefen Höhlen mit sanftem Ausdruck
vor sich hin, der Mund ist leise geöffnet.
Die originale Arbeit verrät sich in der wunderbar
leichten Behandlung des fein gekräuselten
Haares, das durch eine leichte Verwitterung
noch an malerischem Reiz gewonnen hat. Leider
hat die vorwitzige Hand eines modernen Bildhauers
die Verwitterung im Gesicht getilgt, doch
nicht so sehr, daß die ursprüngliche Form unerkennbar
geworden wäre. Die weiche Modellierung
der Formen ist erhalten geblieben. Sie
entspricht dem Charakter der Dargestellten, der
sich in der milden Neigung des Hauptes, in
dem umflorten Blick der Augen kundgibt. Wer
die Göttin war, vermögen wir nicht zu sagen.
Der Kranz, der, wie die Bohrlöcher beweisen,
einstmals das Haar geschmückt hat, ist ein beliebter
Schmuck und kein bestimmendes Abzeichen
. So können wir nur im allgemeinen mit
Namen wie Demeter oder Leto den Kreis matro-
naler Gottheiten bezeichnen, dem unsere Göttin
angehört haben muß.
Ebenso unbestimmt müßten wir uns ausdrücken
, wollten wir den Künstler nennen, dem
wir das Werk zu verdanken haben. Dem 4. Jahrhundert
v. Chr. gehört es sicher an, Attika wird
seine Heimat sein. Da stellt sich sogleich der
Name Praxiteles ein; von ihm sind Bilder der
Leto überliefert; aber was wir von ihm haben
oder zu wissen glauben, hat einen anderen Charakter
. So muß der Name des Meisters im
Dunkeln bleiben. Es wäre auch wenig damit
gewonnen, da nur eine kleine Anzahl von Bildwerken
sich neben unseren Kopf stellen läßt.
Genug, wenn wir uns seines Besitzes freuen und
seine Schönheit dankbaren Gemütes genießen.
Bruno Schröder
87
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_45_1922/0117