Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 45. Band.1922
Seite: 172
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_45_1922/0212
Natürlich verneigt sich der Festredner tief
vor dem „nachgeborenen Griechen" Winckel-
mann: „Ferne sei es von uns, den Geist des
vollendeten Mannes selbst tadeln zu wollen!
Heilig wie das Gedächtnis allgemeiner Wohltäter
bleibe uns sein Andenken! Er stand in
erhabener Einsamkeit wie ein Gebirg. Durch
seine ganze Zeit: kein antwortender Laut, keine
Lebensregung, kein Pulsschlag im ganzen weiten
Reiche der Wissenschaft, der seinem Streben

entgegenkam"--, so hebt er seine Kritik an.

Aber schon beim ersten Satz horcht man auf:
also nicht tadeln will er den Geist des vollendeten
Mannes selbst! Wen aber dann? Man fühlt
es deutlich; die, die seiner Wegweisung gefolgt
sind! Also im Grunde doch ihn selbst! Winckel-
mann hatte gesagt: es gibt nur einen einzigen
Weg, in der Kunst wieder groß zu werden, die
Nachahmung der Alten. Sendling aber sagt:
wer diesen Weg geht, betritt einen Irrweg. „So
geht die Kunst zu jener Methode über, die wir
die rückschreitende nennen möchten, weil sie
von der Form zum Wesen strebt. Aber so wird
das Unbedingte nicht erreicht: durch bloße
Steigerung des Bedingten wird es nicht gefunden
. Darum zeigen solche Werke, die ihren
Anfang von der Form (des antiken Vorbildes)
genommen haben, bei aller Bildung von seiten
der letzten als Merkmal ihres Ursprungs eine
unaustilgbare Leere an eben der Stelle, wo
wir das Vollendete, Wesentliche, Letzte erwarten
."

Vernichtender kann man nicht wohl über
die reformatorischen Absichten Winckelmanns
reden. Und es geschah das in dem gleichen
Jahre, da Fr. A. Wolf dem „Klassiker" Goethe
seine „Darstellung der Altertumswissenschaften"
widmete, da der Klassizismus der Künstler und
selbst unserer Dichter sich daran gewöhnt hatte,
bei den Schülern Winckelmanns Anregung für
Inhalt und Form ihrer Werke zu holen.

Es bedeuteten solche Urteile auch zugleich
eine offene Kampfansage an Goethe. Denn der
bemühte sich leidenschaftlich, den Künstlern die
Gefolgschaft der Antike ans Herz zu legen.
Voller Freude hatte Goethe in der Jenaischen
Allgemeinen Literaturzeitung gesagt: „Indem
die Künstler immer mehr Trieb zeigen, sich dem
Altertume zu nähern, so wird es Pflicht, ihnen
zweckmäßig vorzuarbeiten, damit diese höchst
lobenswerte Absicht rascher gefördert werde",
und er hatte hinzugefügt: „Die Kunst überhaupt,
besonders aber die deutsche, steht auf dem bedeutsamen
Punkte, daß sich Künstler und Liebhaber
dem wahren Sinne des Altertums mit starken
Schritten nähern."

Und nun kam ein Philosoph von unleugbarer
Bedeutung und benutzte die höchst friedfertige

Gelegenheit eines königlichen Namensfestes um
den „stark Schreitenden" ein „Zurück!" zuzurufen
.

Fast verwunderlicher noch muß uns Heutigen
erscheinen, daß Sendling bei dieser
Negation der zeitgenössischen antikisierenden
Kunstlehre nicht stehen bleibt, sondern ebenso
keck den Kampf gegen jede Art des künstlerischen
Naturalismus aufnimmt.

Man weiß, wie um das Jahr 1800 hier und da
die Freude an der Natur unter den Künstlern
lebendig wurde, wie vereinzelte Kampfnaturen
der Hoffnung Ausdruck gaben, daß aus einer
Anlehnung an die Natur so etwas wie eine
Befreiung von den Fesseln des offiziellen Klassizismus
sich entwickeln könnte. Und man möchte
deshalb glauben, daß jeder Gegner der klassizistischen
Lehre sich auf die Seite derer schlagen
mußte, die eine Heimkehr zum Studium der
Natur verlangten. Wie Schadow etwa, der schon
1801 ausgerufen hatte: „seit anderthalbhundert
Jahren schon sind wir Nachahmer der Welschen
und der Franzosen oder Graeculü". Aber
Sendling denkt nicht daran, den Künstler aufzufordern
, die Natur getreulich zu studieren und
nachzubilden. Im Gegenteil! Er ruft aus: „Wollte
sich der Künstler mit Bewußtsein der Natur
unterordnen und das Vorhandene mit knechtischer
Treue wiedergeben: so würde er wohl
Larven hervorbringen, aber keine Kunstwerke!"

Also: wer antike Kunst nachahmt, schafft
keine lebendige Kunst, wer die Natur nachahmt,
bringt Larven hervor! Das Eine ist demnach
so verwerflich wie das andere. Und nun prägt er
das kühne Wort, das am Kopfe dieser Zeilen
steht: „Die Kunst muß, um Kunst zu sein, sich
erst von der Natur entfernen!"

Voller Spannung fragt der Leser dieser modernen
Rede, die vor vier Menschenaltern gehalten
wurde: „Und dann? Was soll der Künstler tun,
um rechte Kunst zu schaffen? Ist Sendling vielleicht
auch der Meinung, daß es richtig sei,
primitive Kunst nachzuahmen?"

Onein! Er sagt ausdrücklich: „Die vollendeten
Kunstwerke zurücksetzen und die noch einfältigen
schlichten Anfänge derselben aufsuchen,
um sie nachzuahmen, wie einige gewollt, dieses
wäre nur ein neuer und vielleicht größerer Mißverstand
; nicht sie selber wären auf das Ursprüngliche
zurückgegangen, auch die Einfalt wäre nur
Ziererei und würde heuchlerischer Schein."

Also: Nachahmen unter keiner Bedingung!
Weder die Antike noch die Natur, noch primitive
Kunstübung. Statt dessen — und nun
zeigt der rücksichtslose Kritiker aller Kunsttheorien
seiner Zeit, daß er auch positiv zu
sein vermag, — das Wesen der Dinge, den
innersten Inhalt ergreifen! „Der Künstler muß

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