Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 47. Band.1923
Seite: 46
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MARC CHAGALL

DER BETENDE JUDE

Kunst diesem gemäß, — das Leben wird alsdann
vergottet, dann ist der Fang reich und
die Schönheit vollendet.

Aber solche Epochen sind selten. Gewöhnlich
wendet die Kunst ihren Blick beim Suchen
nach Formen in vergangene Zeiten zurück,
und je düsterer die Gegenwart, desto durchdringender
wird das Spähen in die Tiefen der
Vergangenheit.

Und hier wieder eine Tragödie: längst ver-
klungene Formen sind wohl wunderbar schön,
aber sie leben nicht; man kann sie nicht mit
dem jungen Wein der Gegenwart anfüllen, wie
man auch einen alten Schlauch nicht mehr
brauchen kann. Das aber, was der heutige Tag
bringt — ist düster und hoffnungslos.

Ähnliches hat unsere Kunst eben erst durchlebt
: das Jahrzehnt vor dem Weltkriege.

Kunst und Leben gehören zusammen — eine
Verbindung, die sich gleichzeitig auf Liebe und
auf Haß gründet. Das flammende Schwert des
Erzengels, der dem ersten Menschen den Zugang
zum Paradiese wehrte, deutet auf jene
Verbindung. Die ewige Sehnsucht der Kunst
ist der Traum von der Pforte des Paradieses.
Immer ist die Kunst ans Leben geschmiedet,
aber von dieser Sehnsucht beflügelt, scheint
sie ihm voraufzueilen. Daher ist die Kunst
immer seherisch, prophetisch.

Seherisch und prophetisch ist nicht der Inhalt
der Kunst, sondern ihre Qualität, ihre
Wesensfarbe. Wie wir je nach dem Gefieder der
Vögel, je nach ihrem Fluge vom Frühling oder
vom Herbst sprechen, so suchen wir das Zukünftige
zu enträtseln an den Fittichen und am Aufstieg
der Kunst.

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