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NEUERE PLASTIKEN VON EDWIN SCHARFF
Während wir über das Werden und Wachsen
der modernen Malerei und ihrer Meister
eine europäische Kenntnis von beinahe geschichtlicher
Prägung besitzen, sind wir über
die gleichzeitige Bildhauerei nur kümmerlich
unterrichtet. Ungleich jünger, hat sie sich gegen
1900 in die Breite und Höhe entwickelt und
zumal in Deutschland zu einer Vielseitigkeit
der Aufgaben und Künstler, wie seit dem Rokoko
nicht mehr. Kurz vor dem Kriege erstand
der neuen Plastik aus dem Studium der
ägyptischen und mittelalterlichen Kunst, wie
aus den kubistischen und expressionistischen
Strömungen der Malerei vielfache Anregung,
die in bedeutenden Werken und Meistern heute
noch wirksam ist.
Edwin Scharff vertritt diese jüngste Phase
als einer der führenden Persönlichkeiten. Die
hier abgebildeten Werke bieten eine Auswahl
seiner letzten Arbeitsweise, neben der schon
wieder Neues lebendig wird. Ein paar Hinweise
sollen in ihre Besonderheit wie allgemeine
Bedeutung einführen.
Edwin Scharff (geb. 1887 zu Neu-Ulm) besitzt
von Natur eine überaus glückliche Mischung
aus alemannisch zäher, energischer Eigenwilligkeit
und fränkischer Sensibilität, eine durchaus
männliche germanische Art. Von der
Malerei und Radierung ausgegangen, drängte
es ihn schon früh zur menschlichen Form
schlechthin, zum tektonischen Aufbau in der
Gruppe. Reisen in Italien und Spanien entwickelten
diesen Formensinn bald so stark,
daß Scharff die Palette und den Stift mit dem
Meißel vertauschte. Das Geometrische des
Kubismus war für ihn eben die rechte Schule,
in die er sich mit unerbittlichem Arbeitseifer
wie in ein Exerzierschema zwang, bis er die
gewünschte Herrschaft über die Form in mathematischer
Klarheit, Ordnung und Sicherheit
errungen.
Damit war jene Richtung für ihn erledigt
und er ging vom Abstrakten zur Schönheit
der Natur über, die er bis zur blumenhaften
Leichtigkeit des menschlichen Leibes und den
verhülltesten Schwingungen seines physischen
und psychischen Lebens zu meistern sucht —
stets umzirkt von einer letzten geheimnisvollen
Ruhe.
Das Kubische. Hildebrand hat durch seine
Rückkehr zur klaren plastischen Anschauung
den Naturalismus überwunden und in seinen
besten Werken ebensoviel Natur wie Kunst
erreicht; aber sie alle halten sich im Bisherigen
, erschließen kein Neuland. Er suchte das
„Quälende des Kubischen" durch die Reliefansicht
zu überwinden und ist damit wesentlich
dekorativer Plastiker geworden. Die Gegenwartsbildhauer
wollen Rundplastiker sein, selbst
im Relief. Sie erstreben das Körperhafte in
seiner blockmäßigen Gedrungenheit und Fülle,
wollen dessen Leben packen und enthüllen: das
Kubische quält sie nicht, es entzündet und
inspiriert sie. Darin wurzelt ihr Interesse, ja
ihre Begeisterung für die ägyptische und primitive
Kunst, bis zur Negerplastik; darin
fühlen sie sich Cezanne verbunden, der als Maler
auch noch die Raumform und ihre Dynamik
mit einbezieht: Malerei und Plastik verbindet
ein gemeinsamer Stilwille.
„Das Liebespaar" (1923). Das Übereinander
und Ineinander der Umarmung ergibt mit der
halbliegenden Stellung eine sich emporstaffelnde,
gebirghafte Gruppe, die von der Höhe in kataraktischem
Gefäll wieder nach unten drängt,
um von den dortigen Stützpunkten aufs neue
aufzusteigen. So lösen sich aus der Gesamtmasse
innerhalb einer Diagonale, in die das
Ganze bildmäßig eingespannt ist, ein aktivisches
Oben und passivisches Unten; innerhalb
jeder wird der gleiche Gegensatz des Tätigen
und Lässigen nochmals wirksam. Aber noch
weiter sondert und klärt sich das scheinbar
Geknäuelte: das Feste, Straffe, Gebaute des
Mannes hebt sich von dem Weichen, Gelösten,
Verhüllten des Weibes ab. Die wechselnden
Dominanten in der körperlichen Lagerung
lockern den Menschenblock, bereichern ihn
mit fülligem Leben. Aus dem Steinsockel wächst
das sich gipfelnde Paar wie eine Berggruppe
aus ihren Unterschichten. Wir kennen nach
Inhalt und Form verwandte Motive von Rodin;
aber welch ein Unterschied! Dieser schafft
wesentlich mit Hilfe des Materiales und Lichtes
ein flaumig verblasenes Gebilde, das wie
ein erotischer Traum auftaucht und vergleitet:
die stark lyrische Impression eines fast feminin
überfeinerten, gallischen Temperamentes;
bei Scharff steht alles im lichten Alltag der
Natur, deren Gesundheit und Schönheit dia
ganze Empfindung trägt — ein germanisches
Ideal.
„Sitzende Frau" (1919). Diese Terrakottastatuette
entwickelt sich aus dem Wesen des
gefügigen Tones. Sie dreht sich trotz der
Fülle ihrer wuchernden Formen geschmeidig
empor und offenbart darin deren Wendigkeit.
Die Stütze, mit der sie verwachsen scheint,
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