Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 49. Band.1924
Seite: 78
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_49_1924/0096
ist wie der Boden, aus dem sie erstanden, un-
geformt gegenüber der Artikulation des Körpers
. Das Ganze in sich ruhig beschlossen
von der breiten Basis bis zum fast koketten
Haarschopf. Aber die Arme ! Sie fehlen, weil
sie unnötig sind: sie haben nichts zu tun und
können deshalb wegbleiben. Doch der Mensch
verliert seine Arme nicht in der Untätigkeit.
In der Natur nicht! Aber in der Kunst.
Diese entnimmt der Wirklichkeit, was sie für
ihren Zweck braucht und überzeugt uns durch
das „Wie" von der Richtigkeit des „Was".
Der Zuschnitt ist so gewählt, daß uns nichts
fehlt, weil das scheinbar Fehlende in der einheitlichen
Gesamtform aufgeht. Es handelt
sich hier also nicht um ein Versagen der
Formkraft, sondern um ein bestimmtes Wollen.
Und dies will nicht das billige Spiel mit den
Reizen des Torso, sondern verankert nach Art
des Impressionismus die Erscheinung nur in
den wesenhaften Punkten. Diese Art ist heute
vielfach beliebt, aber nur wenigen gelingt sie
in einzelnen Werken; Scharff meistert sie.

Die Fülle und Vereinfachung der Form mag
an Maillol gemahnen, bietet aber etwas ganz
anderes. Maillol legt seinem frischen und warmen
Natursinn abwechselnd antikische oder
gotische Formen unter. Scharff baut seine
Naturanschauung auf der mathematischen Bezwingung
der menschlichen Form auf. Damit
wird er frei von allen traditionellen Anklängen
und steht doch qualitativ guten Werken der
Vergangenheit nahe.

Das Bildnis. In wie hohem Maße Scharff
absoluter Plastiker ist, zeigt sich in seinen
Bildnissen. Er tritt an sie nicht mit irgendeiner
Idee oder Absicht heran, arbeitet nicht
eine „Auffassung" heraus. Hiervon fürchtet er
eine literarische oder karikaturhafte Wirkung.
Er will den Kopf nur möglichst als plastische
Erscheinung fassen: je schärfer ihm das gelingt
, desto mehr stellt sich von selbst das in
den Formen niedergelegte Geistige ein, das
ihn weiterleitet. Scharff sieht mit solcher Exaktheit
, daß er niemals einen Kopf mißt. Das
Übersetzen des Gesehenen ergibt von selbst
Auswahl der Elemente, Anpassung an das Material
, Vereinheitlichung zu einem Ganzen, aber
auch jene verblüffende Echtheit, die Scharffs
Bildnissen eigen ist.

Mit Vorliebe beschränkt sich der Künstler
auf den Kopf, den er scheinbar unvermittelt
vor uns hinstellt. Auge, Nase, Mund sind aber
derart betont, daß sich von ihnen aus alles
übrige wie von selbst begrenzt. Dabei weiß
er aus der Art des Originales die künstlerische
Form immer neu zu wandeln; schon die
Haltung des Kopfes hat etwas Entscheidendes.

Heinrich Mann (1920) ist ungleich kubischer
als Freundlich (1922) — der entgegengesetzte
Eindruck kommt davon, daß jener auf schwarzem
, dieser auf hellem Grunde steht. Aus den
runden, knorpeligen Formen bei Freundlich
spricht Zielbewußtsein und Energie, gedrängtes
Leben. In Heinrich Mann herrscht das
Kantige des geistigen Menschen vor, die feinste
Durcharbeitung der Form, die alles offenbart:
kritische Überlegenheit bis zum zynisch Verächtlichen
und unnahbar Kühlen, aber auch
bittere Wehmut, die sich die gefühlsmäßige
Anteilnahme verkneift. Etwas Sybaritisches
im hängenden Kinn.

Mit am erstaunlichsten sind hier, wie überhaupt
, die Augen behandelt: scheinbar nur
Augenhöhlen, aber in sich geformt, von den
Rändern ganz bestimmt gefaßt, in der Lage
des Einzelnen und seiner Beziehung zum anderen
genauest abgewogen, in Lid und sonstiger
Umgebung vom Blick und dessen Ausdruck
gestaltet, so daß der Augapfel wie der
unsichtbare Akteur wirken muß.

Die beiden Frauenbüsten sind bei aller Gemeinschaft
im Büstenmäßigen doch auch hierin,
wie in sich ganz verschieden. Der Zuschnitt
dieser Bildnisformen gehört zur besonderen
Meisterschaft Scharffs, der darin immer Neues
und in sich Begründetes bringt. Bei Frau
„Dr. L." (1919) ergibt sich aus der Naturvorlage
des Weichen, Fülligen, Breiten Terrakotta
als Material und zugleich das rundlich
Abgeschlossene. Dies gewinnt im Oval des
Halses und Brustansatzes eine schnittige Form,
die den Kopf nach oben zur vollen Entfaltung
treibt und zugleich in seiner Ruhe sichert.

Bei der „Schauspielerin Helene Ritscher"
liegt in der Büstenform und deren fußhafter
Verspreizung ein Emporführendes wie bei einer
Statue, die uns zu ihrem Kopf hinaufdrängt.
Dieser selbst gewinnt hieraus etwas Strenges,
Feierliches, eine demeterhafte Ausschau und
Würde — verstärkt durch die Bronze.

Das Relief. Seit Hildebrands Theorie wird
das strenge antike Relief dem malerisch gelösten
vorgezogen. Beide haben ihre Berechtigung
. Scharff beherrscht jede Art — aber auf
seine Weise. Er überwindet den oft peinlichen
Eindruck des vor einer Wand oder unter einer
Türe Stehens der Relieffiguren, wovon auch die
Griechen nicht frei wurden. Scharffs Gestalten
stehen im Raum, runden sich allseitig und
sind selbst von Atmosphäre umwittert, was
mancher dieser Darstellungen selbst etwas Visionäres
verleiht. Scharff schätzt bei aller Freude
am Klaren doch auch das Geheimnisvolle des
Verhüllten und gleicht darin dem nordischen
Rembrandt. Das Relief scheint ihm hierfür be-

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