http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_50_1924/0277
ARCH. EDMUND MAY-KÖNIGSBERG
GENESUNGSHEIM IN STRALSUND, RÜCKFRONT
EDMUND MAY-KÖNIGSBERG
Pr keinen Zweig des künstlerischen Gestal-
tens hat sich das neunzehnte Jahrhundert
verhängnisvoller erwiesen als gerade für die
baukünstlerische Tätigkeit. Nach dem Klassizismus
und der Neugotik, nach Perioden, denen
noch schöpferische Phantasie und eigene Kraft
innewohnte, verebbte alles nach und nach in
dem flachen Bette eines träge fließenden Eklektizismus
, der Größe geben wollte und sie nur
vortäuschte. Erst nachdem sich tatsächlich der
Reichtum von Handel und Wirtschaft konsolidiert
hatte, nachdem mit der Wende des zwanzigsten
Jahrhunderts eine Stetigkeit eingetreten
war, war eine natürliche Basis geschaffen, auf
der den Architekten neue Kraft erwuchs. Und
sogleich zeigten sich in ihren Keimen zwei
Richtungen, auf die sich alle neuesten Schöpfungen
zurückführen lassen. Die eine wurde
von Männern gebildet, die aus dem unmittelbaren
künstlerischen Erlebnis — scheinbar ohne
irgendwelche Voraussetzungen ähnlich wie der
Expressionismus in der Malerei — den Bau als
ein vollkommen nur aus sich selbst herausgewachsenes
Gebilde ansahen. Die andere wandte
ihren Blick meist bewußt in die Vergangenheit
und suchte auf historischer Grundlage
im besten Sinne Einfachheit und Stärke zu
entwickeln, soweit sie auch ein Merkmal unserer
Tage sein mußten. Diese Merkmale fand
sie in der Zeit Gillys, ebenso auch noch in der
Zeit Schinkels und seiner unmittelbaren Nachfolger
in Berlin. Es tut wohl, in einer Zeit,
in der oft unter Anwendung von Gewalt absolut
ein neuer Stil geschaffen werden soll, die
absichtliche Fortsetzung einer bedeutenden
künstlerischen Linie zu sehen. Denn es ist gewiß
offenbar, daß Messel historisch belastet
war, aber ebenso offenkundig ist, daß er auch
die schöpferische Vorstellung vom Bau hatte,
wie sie in der Zeit vor hundert Jahren lebte.
Daß der Bau eine Plastik ins Gewaltige übersetzt
bedeutet und daß diese Plastik durch
ihre Hülle den unendlichen vom endlichen
Räume scheidet, das läßt ihn und seine Schüler
ebenso zu Künstlern werden wie die Anhänger
der anderen Richtung.
Ein Schüler Messels und ein getreuer Vollstrecker
seiner Ideen ist Edmund May, der
zur Zeit als Direktor der Staatlichen Kunst-
und Gewerkschule zu Königsberg in Preußen
wirkt. Alles, was Messel auszeichnete, zeichnet
auch ihn aus, ohne daß er deshalb zum unpersönlichen
Nachahmer des Meisters werden
wollte und konnte. Namentlich fehlt May wohl
Dekorative Kunst. XXVII. 10, Juli 1924.
233
30
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_50_1924/0277