http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_51_1925/0146
EINIGE ANMERKUNGEN UBER DIE PLASTIKEN DES EDGAR DE GAS
Im Atelier des Malerzeichners Degas find nach
feinem Tode zweiundfiebzig plaftifche Skizzen
gefunden worden. Sie find Wachs. Die
Jahre haben ihnen einigermaßen gefchadet; fie
find zum Teil ein wenig verdorben; aber dem
Wefentlichen der bildncrifchen Gefamterfchei-
limig, zumeift auch dem einzelnen, ift nicht
Eintrag getan. Adrien Hebrard, ein Freund des
Künftlers, goß die Wachsfkizzen in Bronze;
jedes Modell — fofern wir richtig unterrichtet
find — wurde zwanzigmal gegolfen; jedem
Modell ift aufs genauefte die Form und Farbe
des Originals gegeben. Das Petit Palais in Paris
befitzt eine vollständige Reihe.
Das Eigentümliche und Außerordentliche die
fer plaJtifchen Entwürfe ift ihre Promptheit:
das unmittelbare Dafein, die unmittelbare jähe
Gegenwärtigkeit. Ein Künftler kann die Dinge
durch die Form gleichfam entfernen. Dies gc-
fchah oft; dann ftanden die Werke, die im
Werk dargeftellten Dinge in beruhigendem,
auch allzu beruhigendem Abftand vom Be-
fchauer. Dem Werk und feinem Gegen (in i id.
den es vermittelt, war das Aktuelle genommen,
das Aufregende entzogen. Hier nun, bei Degas,
gefchah das Gegenteil. Recht eigentlich find
diefe plaJtifchen Dinge zur äußerften Aktualität
aufgerufen. Aktualität —man wolle den Begriff"
richtig verliehen. Es handelt fich nicht um eine
Aktualität in modifchem Sinne, in irgendeinem
zeitgefchichtlichen Sinne, der vorübergeht. Es
handelt fich um Aktualität in einem fozufagen
bedingungslofen Sinn: um Aktualität fchlecht-
hin, um Senfationelles fchlechtliin (im heften
Verftande). Es handelt fich eben um das, was
vorhin als ein ungemeines Maß des Prompten
, der Vergegenwärtigmig bezeichnet wurde:
um ein jähes, mimittelbares Da-Sein der Figuren
. Es gibt wohl keinen anderen Ausdruck.
Der Begriff des „Prompten" bezeichnet diefe
Dinge fehr wohl — oder eben der gleichbedeutende
Begriff des Aktuellen oder Sensationellen.
Mit folchen Begriffen wird auf das höchft
Direkte abgezielt, das den Auftritt diefer Figuren
und ihre Wirkung auf uns zu etwas fo Be-
Es fei mit diefem Auffatz auch nachdrücklich auf die neue
Ausgabe des „Degas" von Julius Meier-Graefe (bei R.Piper 6k
Co. in München) verwiefen. —
fonderem und Aufregendem macht. Noch einmal
: es ift das Prompte.
Dies Prompte ift aber ein zur Einheit verbundenes
Doppeltes. Dies Prompte ift gegenftänd-
lich und es ift — durchaus zugleich — formal.
Es wäre natürlich unfmnig, die beiden Tatfachen
umftändlich auseinanderlegen zu wollen,
da fie im Werk doch fo tief verbunden find.
Immerhin: es ift wahr, daß beide Formen des
Prompten gefpürt werden — wenn auch in
einer gemeinfehaftlichen, einzigen V erbindung.
Mit einiger \ orficht wird man alfo von beiden
Motiven des Prompten fprechen dürfen.
-*
Das Gegenftändliche; das Sachliche; das Inhaltliehe
. Der Anteil des \leiflers an den Dingen
felbft, am Skelett und Fleifch der Frau, an der
Spannung ihrer Bewegungen ift feiner mit
Händen zu greifen. Muß man dies ausfprechen?
Verlieht es fich nicht von felbft? Es verfteht
fich heute leider gar nicht von felbft. Wir haben
uns mit den Irrtümern des Expreffionismus
weit, weit, verhängnisvoll weit von der Subftanz
der Dinge entfernt (die nun, in der Zeit der
Surrogate, freilich auch recht dünn geworden,
ja faft verfchwundeii war — denn wir haben in
langen Jahren ein I ubftauzlofes Leben führen
müffen, und die Kunft konnte wohl nichts anderes
tun, als diefem Zuftand ideologiIch folgen).
Degas, gerade Degas der Plaftiker, er noch mehr
als der Malerzeiclmer, fteht aber üi einem ganz
nahen, ganz dichten, atemraubend dichten \ er
hältnis zum Stoff. Ihn intereffiert die Subftanz
der Frauen, der Pferde; er will es mit der Ma
terie zu tun haben; fie regt ihn auf. Die Kunft
beginnt ihm gar nicht als eine Frage des „Stils'";
fie beginnt für ihn in der Region des ftofflicheii
Erlebens. Und nun könnte man freilich fagen:
wer die Subftanz fo leidenfchaftlicli, ja fo ma-
niakälifch liebt, begehrt wie er, der hat, eben
damit, fchon den erften Schritt zur Form getan.
Solche Leiden fehaft für das Objekt bedeutet
fchon ein formales Verhältnis; dies paffionierte
Abfühlen ift fchon eine Form. Die Situation ift
fchwierig; man kann ihr mit \\ orten nicht gut
beikommen; es ift unmöglich, den Punk t zu fallen,
an dem das Gegenftändliche der Paffion ein
leidenfchaftlicli es formales Element wird. \\ ir
i 11
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_51_1925/0146