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Blütenteppiche zu suchen. Auf diese Gegend
weist sowohl der Auffindungsort der meisten
Stücke, die vielfach aus den Kirchen und Schlössern
der Touraine stammen, wie die Herkunft
der Besteller und Besitzer, die durch eingewirkte
Wappen zum Teil identifiziert werden konnten.
Die Touraine wurde im letzten Drittel des
15. Jahrhunderts die Residenz der französischen
Könige und der Mittelpunkt eines reichen Kunstlebens
.
Bezeichnend für die ganze Grirppe ist die Behandlung
des Hintergrundes. Eng aneinander
gerückte naturalistische Blumenstauden überspinnen
die Fläche. Mit größter Sorgfalt und
Sachlichkeit sind die einzelnen Blätter- und Blütenformen
individualisiert. Wicken und Veilchen
, Nelken und Winden, Stiefmütterchen und
Gänseblümchen, Rittersporn und Akelei sind
in dichten Büscheln nebeneinander gereiht und
könnten mit Hilfe eines botanischen Lehrbuches
ohne Schwierigkeit nach Familien und Spjiel-
arten gesondert werden.
Aber unvermittelt neben diesem neuen Naturalismus
, der mit größter Treue und Objektivität,
mit innigenrEingehen auf die organische Struktur
die zarten Blumen und Blätter der Wirklichkeit
nachbildet, steht die abstrakte Idee des
Tapetenhintergrundes, der die Fläche wie ein
ornamentales Gewebemuster füllt und allen
räumlichen Werten entgegenwirkt. Den naturalistischen
Blumen fehlt kompositioneil jede naturalistische
Konsequenz. Sie täuschen uns keinen
Wiesenrain, keine Blütenhecke, keine Blumenlaube
vor. Sie stehen ganz tapetenmäßig
auf dem dunkeln Grund und bedecken gleichmäßig
das ganze Bildfeld. Mitten aber in diese
knospende Wunderwelt, in dieses blühende Gewirr
sind in planem Neben- und Übereinander
einzelne Figuren gesetzt, die in keiner geistigen
oder gegenständlichen Beziehung zueinander
stehen, Putten und spielende Kinder, Vögel und
Vierfüßler; oder es erscheinen einzelne Heiligengestalten
, mythologische Figuren, Wappenträger
, Genreszenen, die dem höfischen Kreis entnommen
sind, alle in raumloser Flächenkomposition
, ihrer körperlichen Wesenheit entkleidet,
vor die Fassade des Blütengrundes gestellt.
Höhepunkte der Entwicklung bedeuten die sechs
für ein luxuriöses Frauengemach bestimmten
wundervollen Behänge mit der „Dame a la Li-
corne" im Musee Cluny zu Paris. Die Dame
mit dem symbolischen Einhorn kehrt auf allen
sechs Stücken wieder. Eine literarische Deutung
der Darstellungen steht noch aus, doch scheint
die Beziehung auf eine adelige Bestellerin nicht
zu verkennen. Die sechs Teppiche stammen aus
dem Schloß von Boussac (Creuse). Die eingewirkten
Wappen sind die des Geschlechtes Le
Viste, einer angesehenen Lyoner Adelsfamilie.
Das künstlerische Zusammenspiel der bunten
Blütentapete vor karminrotem Hintergrund mit
der feinfühligen Kalligraphie der gegenständlichen
Darstellungen, die köstliche Zartheit und
Harmonie, der unendlich kultivierte Geschmack
der Gesamtfarbenstimmung, die lyrische Empfindsamkeit
, die manierierte Zierlichkeit der lieblichen
Szenen machen die sechs Behänge zu
Marksteinen in der Geschichte der französischen
B il d wir kerk uns t.
Die Tourainer Blütenteppiche wurden ohne jene
Einrahmungen oder Bordüren gewirkt, wie sie
die Stücke aus anderen Werkstätten der Zeit
zu tragen pflegten. Die Bordüre vertrat die
Stelle des Biiderrahmens und war die Anzeige,
daß das umrahmte Textilgemälde nach allen
vier Seiten begrenzt und abgeschlossen, von der
Umwelt isoliert, ein selbständiges Ganzes ist.
Die Tourainer Blütenteppiche, die nach allen
vier Seiten zu unendlichem Rapport ergänzt
werden konnten, fügten sich in die Tektonik
der Wände als dienende Glieder, sie überzogen
—häufig zwischen Verl äfelungen eingespannt—
mit ihrem blühenden Blumenmuster die kahlen
Mauerflächen, wie in späterer Zeit schwere Brokat
- und Seidenstoffe. In diesem Sinne sind sie
die Vorläufer unseres billigen Wandtep>pich-
ersatzes, der bedruckten Papiertapete, die im
bürgerlichen Haushalt seit langem die Stelle des
aristokratischen Wandteppichs usurpiert hat.
Betty Kurth (Wien
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