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DER STIL IM STÄDTEBAU
Eine Rede, gehalten am 28. März 1924 in Augsburg von Prof. Dr. Theodor Fifcher
I.
Die Baukumt ift ein Myfterium, fo gut wie
die Mußk. Warum foll der UmnufikahTche
der Mufik anders gegenüberftehen, wie der Un-
architektonifche der Baukunft? Mrjbeiq ctysoD-
u-Erpixoq eiönrco; keinMenfch ohne angeborenes
Gefühl für VerhältniJÜTe wird in die Baukumt eindringen
. So gut es nun immerhin einige Klavierspieler
ohne Talent gibt, lo gibt es auch Bauleute
genug ohne dieplatonilcheGeometrie,ungepmfte
und geprüfte. Es ift ein Jammer, daß man fie
nicht irgendwie unfchädlieh machen kann, denn
fie verderben unfere Städte fo, daß es einem anfängt
zu ekeln vor dem Begriff Stadt. — Als
die Zeit um war und die letzte Welle natürlich
Ichönen Werdens biedermeierlich plätf ehern d
verliegte, fand fich das Wort Städtebau, das ich
erft im letzten Jahr meines Studiums zum erfien
Male zu Gehör bekam, und heute nach 4o Jahren
braucht man fall fchon Möbelwagen, wenn man
die Literatur über Städtebau von der Stelle bewegen
wollte. Die alte Erfahrung: man fpricht
von der Tugend am meifien, die man nicht hat.
Stadtähnliches wird genug gebaut, aber den
Städtebau, d. h. einen Stil im Städtebau haben
wir nicht. Da wären wir alfo bei der gemütvollen
Klage um den verlorenen Stil! Nein, das
ift nicht meine Abßcht; ich möchte nicht einmal
verfuchen, eine neue Definition des Wortes
Stil zu den vielen fchon verfuchten zu konftrLiieren
. Wenn ich das Wort S til im Zulammen-
hang mit Städtebau gebrauche, iß: es vielleicht
nur die Freude an der netten Alliteration; be-
abfichtigt iß: tatfächlich der Verfuch, eine Art
Phyfiognomik der Stadt zu machen. Lavater
betrieb die feine, wie er fagt, „zur Förderung
der Menfchenkenntnis und der Menf chenliebe";
ich habe auch eine Nebenabßcht, vielleicht wird
ße bald klar werden.
Ein Weiteres muß ich auch noch vornweg ablehnen
, die hiftorifche Betrachtung der Stadt.
Das iß: nicht mein Fach. Die hiftorifche Stadt
aber zu betrachten, wollen wir durchaus nicht
vergefien. Es handelt lieh hier übrigens, wie
ßch wohl von felbft verfteht, nicht um die Stadt
als Verwaltungsobjekt, fondern um die Stadt
als Form.
Nim wird man gut tun, einer fo komplizierten
Vielheit gegenüber, wie fie die Stadt darßellt,
ßch nicht auf eine Befchreibung im allgemeinen
einzuladen, 1 ondern man wird verfuchen mülfen,
das Belondere zufammenzulegen und nach Ty-
pifchem zu fliehen. Die polare Gegenüberstellung
ift dabei der bequemfte und ficherße Weg,
befonders wenn ich die Polarachfe einmal fo
und einmal fo durch den Körper des Problems
stoße.
Die Unterfcheidung der gewordenen oder ge-
wachfenen Stadt von der gegründeten iß wohl
geläufig. Da ich aber auf diele Methode belbn-
deres Gewicht legen muß, fei es erlaubt, den
Welens-und Formunterfchied ausführlich noch
einmal darzuftellen, nicht ohne die Begriffe einer
Nachprüfung zu unterziehen. Gemeinhin lieht
man in der malerifch unregelmäßigen Stadt die
gewachsene, in der regelmäßigen die gegründete.
Die gewachfene gilt als die urfprüngliche primitive
Form, die gegründete als die kultiviertere
Form. Das wäre erfi: noch nachzuprüfen. Die
gerade Straße, die Achfialilät ift das Kennzeichen
diefer, die gekrümmte Straße das jener
Form. Ihre Entßehungsarten drücken fich, wie
man annimmt, in dielen verfchiedenen Formen
aus. Daß die gewachtene Stadt immer aus dörflichen
, bäuerlichen Formen entßanden fei, iß:
eine Annahme, die fich nicht aufrecht erhalten
läßt. Nur in der Neuzeit, wo die Induftrie fol-
ches mit fich bringen mag, kann dieler Vorgang
häufiger beobachtet werden. In der eigentlichen
Entßehungszeit der deutlchen Städte, dem Mittelalter
, iß die fiädtifche Siedelung meifi: von
Anfang anders geartet als die bäuerliche, fei es
nun, daß die Kreuzung zweier Heerßraßen, ein
Fluß- oder Grenzübergang zur Anfiedelung von
Kaufleuten und in deren Gefolge von Wirten
und Handwerkern anreizte, fei es, daß Königspfalzen
, Dynaftenburgen oder Klöfter Anlok-
kung und Schutz boten für wirtschaftliche Elemente
ähnlicher Art. Da nun in diefem Fall
von einem willkürlichen Wachfen fchon nicht
mehr ohne Einfchränkung die Rede fein kann,
weil der Schutzherr, der wohl mit dem Bodenherrn
eine Perfon war, die Verteilung der Siecle-
lungsfteßen nicht ohne gewifie Abficht und Regel
vornahm, fo deckt fich die Teilung in gewach-
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