Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 53. Band.1926
Seite: 86
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_53_1926/0118
boden sehr wichtig und unentbehrlich sind;
er ist der Wegbereiter für die Milieutheorie
seines großen Schülers Hippolyte Taine. Ich
meine, wir unterschätzen heutzutage ein wenig
diese Seite der Kunst, die doch die selbständigsten
documents humains darbietet und nicht
nur für Maler und Kunsthistoriker da ist.
Was er aber auch immer betrachtet, berichtet,
rühmt, tadelt und liebt, er tut es mit Grazie
und Espri t, mit Eigenart und Munterkeit, nichts
ist langweilig und die kühnen Vergleiche lächeln
in ihrer Paradoxie. All das gibt man vielleicht
zu, dann aber kommt der Keulenschlag: ja,
aber er hat alles von Lanzi abgeschrieben und
sagt das nicht. Die Geschichte der „italienischen
Malerei" ist fast so romantisch wie der ganze
Kerl, ich will sie nach dem inhaltsreichen Vorwort
kurz nacherzählen.

Der Plan, eine „Geschichte der Malerei in
Italien" zu schreiben, kam Slenclhal 1811 in
Mailand, als er eben Italien bereist und das
gleichbetitelte Werk des Abbate Lanzi durchstudiert
hatte. Lanzis Buch ist in der Tat die
erste zusammenfassende Darstellung von sechs
Jahrhunderten italienischer Malerei und läßt
sich ethisch mit Winckelmanns „Geschichte
der Kunst im Altertum" vergleichen. Stendhal
wollte Lanzi ursprünglich übersetzen, zwei
Bände zu 450 Seiten. „Wenn ich es diktiere,
kostet es mich 30—4o Tage." In Paris schreibt
er aber in acht Monaten 12 Notizen = Bände
voll, mit den Themata: 1. Natur und Klima,
2. Volkscharakter, 3. Malerei und bildende
Kunst, 4. Musik - - es sind die berühmten grünen
Quartbände der Grenobler Bibliothek. Jäh
wird die Arbeit unterbrochen durch den russischen
Feldzug, der ihn bis Moskau führt und
tief erschüttert. Nach Napoleons Sturz flüchtet
er nach Mailand zurück, obwohl seine Geliebte
Angela Grua ihm nich t dieTreue hält. Erbraucht
doppelten Trost; denn der Sturz Napoleons
hat ihn bereits aus allen Himmeln und Holf-
nungen gerissen. Aber nun erscheint zunächst
„Das Leben Haydns, Mozarts und Metastasios"
und 1817 das Reisetagebuch: „Rom, Neapel
und Florenz". Immerhin blieb er aber in dauernder
Berührung mit den Kunstwerken und
sicher ist alles, was er über einzelne Bilder sagt,
direkt vor den Originalen erlebt worden. Und
mit außerordentlichem Hochdruck betrieb er
dann doch die Niederschrift, so daß gleichzeitig
mit dem Reisetagebuch das Buch unter dem
Titel „l'histoire de la peinture en Italie" erscheinen
konnte. Es wurde in 1OOO Exemplaren auf
seine Kosten gedruckt, obwohl er damals arm
wie eine Kirchenmaus war. Es erschien unter
dem Pseudonym: M. B. A. A., das als Monsieur
Beyle, ancien auditeur, zu deuten ist. Aber der
Erfolg war gleich null, obwohl er das Buch an
Männer wie Goethe, Humboldt und Walter
Scott versandte. Diese Enttäuschung machte
ihn unfähig, das Buch fortzusetzen, das ja nur
eine Geschichte der Florentiner Malerei bis zu
Michelangelo bietet. Seine Vorarbeiten über
Correggio, Raffael und Guido Reni waren schon
weit gediehen, aber zu einer vollständigen Darstellung
ist es nicht gekommen. Immerhin erschien
1845 eine zweite, 1851 eine dritte Auflage
, diesmal mit dem vollen Namen des Autors.
Müssen wir es auf der einen Seite beklagen, daß
die Niederschrift unterblieb, so gewann Stendhal
doch andererseits dadurch Zeit für Dinge, die
wichtiger waren und die seinen wirkliehen
Ruhm begründet haben, das Buch: „Prome-
nades de Rome" und vor allem die großen Romane
, namentlich „La Chartreuse de Parme".
Er tröstete sich mit dem Satz: „Mein Buch hat
150 Jahre im Leibe." Und daß es das hat, beweist
eben die deutsche Auflage von 1924. Niemand
denkt daran, Lanzi wieder abzudrucken;
Stendhals Buch ist nicht wichtig durch seine
Substanz, sondern durch seinen Stil, seinen
Geist und seine seelische Frische.
Asbelch, der verdienstvolle Bearbeiter Stendhals
, hat genau nachgewiesen, welche Bücher
Stendhal bei diesem Buch benützt, ausgeschrieben
und — sagen wir es ruhig — abgeschrieben
hat. Schon die Tatsache, daß es mindestens
zwanzig Autoren außer Lanzi sind, zeigt, daß es
sich nicht um eine Plumpheit handelte. Wir sind
heute ja sehr gewissenhaft mit Quellenangaben
und man hat es Lamprecht sehr verübelt, wenn
der mal einen Satz wörtlich abgeschrieben hat,
ohne die Quelle anzugeben; aber dafür fehlt
uns auch der Esprit Stendhals. Ich finde diese
ganze Frage höchst irrelevant. Die Hauptsache
ist: wir haben ein interessantes Buch, in dem
wir Heutigen zwar nicht das finden, was man
heute unter dem Titel versteht, wohl aber sehr
viel mehr. Übrigens sind im Anhang Fragmente
über Andrea del Sarto und Raffael abgedruckt
und einige Notizen über Correggio.
Stendhal fängt zwar mutig bei dem Jahr 4oo
post an, aber sehr bald mündet diese Welthistorie
bei der Liebesgeschichte der Bianca
Cappello, die man ausführlicher, aber nicht

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