Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 53. Band.1926
Seite: 92
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_53_1926/0124
DIE ATTISCHE GOTTIN

Die größte Bereicherung, die ein deutsches
Museum seit dem Kriege erfahren hat, ist
der Ankauf der „Attischen Göttin" durch das
Alte Museum in Berlin. Der Besitzer, ein
Schweizer Kunstkonsortium, verkaufte sie für
eine Million Mark. Der Preis erscheint nicht
hoch, bedenkt man, daß es sich in diesem Fall
um ein Kunstwerk von einzigartiger Bedeutung
handelt. Der Betrag wurde durch den Museumsfonds
, das Reich, den preußischen Fiskus, die
Stadt Berlin und große private Spenden aufgebracht
. — Das Verdienst, die Statue für Deutschland
gerettet zu haben, kommtin erster Linie dem
Direktor des Museums, Geheimrat Wiegand, zu.
Nach der Begutachtung durch die namhaftesten
Archäologen Deutschlands entschloß sich die aus
Kunstgelehrten und Bildhauern bestehende Sachverständigenkommission
einstimmig für den Ankauf
. Die Göttin wurde in der Antiken-Abteilung
des Museums zur Aufstellung gebracht.
Die Entstehungszeit aus dem Ende des 7. Jahrhunderts
ist stilgeschichtlich nachweisbar. Sonst
ist die Göttin die älteste Darstellung einer stehenden
Frau, die in einem so vorzüglichen
Zustand erhalten ist. Die Figur ist zwei Meter
hoch und aus einem Block griechischen Marmors
gehauen. Auf einem niedrigen Sockel steht
eine jugendliche Frau, die einen Granatapfel, das
Symbol des Werdens und Vergehens, in der
Hand hält. Das monumentale Format deutet
auf ein Götterbild hin, das in der Dämmerung
eines Heiligtums gestanden hat und dort sich
der Architektur einordnete. Vermutlich handelt
es sich um die Göttin Persephone, Tochter
der Demeter und des Zeus, Fürstin der Unterwelt
, zu deren Symbolen auch der Granatapfel
gehörte. Doch ist auch die Annahme, daß es
sich um eine Darstellung der Aphrodite handelt,
nicht ausgeschlossen. Der Marmor war ehemals
bemalt. Reste roter und gelber Färbung sind
noch auf dem Gewand, den Sandalen, dem Haar
und auf dem Granatapfel wahrnehmbar.
Die Göttin stammt aus dem Beginn der archaischen
Periode. Es war der Augenblick der Geschichte
, als sich Ägypten nach langer Abgeschlossenheit
wieder der Außenwelt öffnete.
Die Griechen hatten am westlichen Nilarm eine
Kolonie und sahen hier eine Jahrtausende alte

künstlerische Kultur, die ihrem Ende entgegenging
. Deutlich zeigt die Göttin ägyptische Stilelemente
. Sie steht inFrontalstelhmg unter Wahrung
der strengen Symmetrie beider Körperhälften
. Nur die Arme haben eine bewegte
Haltung, die bereits auf die kommende Entwicklung
der Plastik hindeutet. Die Füße stehen
senkrecht nach vorn und ruhen auf der ganzen
Sohle. Das Gewand fließt in großen, flachen,
parallelen Falten herunter.

Die ungeheuere Ergriffenheit, die das Götterbild
auslöst, entsteht durch den Gegensatz, mit dem
sich der Ausdruck der Arme und des Kopfes
von der bewußten stilisierten Monotonie des
Säulenkörpers abhebt. Die rechte Hand mit dem
Granatapfel liegt rechts seitlich oberhalb des
Schoßes. So vermeidet sie die Erstarrung durch
völlige Symmetrie und schafft eine jener geheimen
Bewegungszentren, die die eigentliche
Lebendigkeit dieser Plastik ausmachen. Der
Schädel der Göttin ist groß und schmal, Nase
und Stirn in einer Linie leicht zurückfliegend.
Die Ohren liegen hoch und gestreckt an. Als
Schmuck trägt sie Ohrgehänge, ein Halsband
und einen Schlangenreif ums linke Handgelenk.
Trotz der körperlich großen Dimensionen hat
die Frauengestalt einen zarten und frühlings-
haften Reiz. Es ist der Zauber des Morgens und
des Erwachens, der aus ihr spricht.
Das Geheimnis dieses schmalen und großen
Gesichtes mit seinen klaren Linien und scharfgeschnittenen
Flächen, mit seinen riesigen, kurvenumspannten
lidlosen Augäpfeln, die unter
den Spitzbögen der Brauen hervorragen, dies
Geheimnis zu deuten, erscheint fast Vermessenheit
. Der gebogene volle und feste Mund, die
geschürzte Oberlippe, die Wölbung der Backen,
das gespannte Kinn ist von dem irrationalen
Lächeln umspielt, das von einer unendlichen
Grausamkeit, Weisheit und Schicksalsbewußtheit
hervorgerufen zu sein scheint. Die weitaufgerissenen
Augen haben den Ewigkeitsblick.
Mit der strengen monumentalen Einfachheit
ihrer vertikalen Parallelen, mit der magischen
Organisierung ihrer Proportionen, mit dem
Mysterium ihres undeutbaren Lächelns übt
die Göttin eine Wirkung von erschütternder

Wucht aus. Bruno E. Werner


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