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aus der Ausstellung der „Neuen Sachlichkeit"
erworbene Werk „Witwe", 1925, ist von ganz
eigenartigem Slimmungswert — um Gotteswillen
, man darf doch heutzutage noch (oder
wieder?) Stimmung sagen?—, es ist beinah peinlich
, wie sich uns diese dürre, häßliche Frau, die
bis in die Schleierspitzen mit Fluidum geladen
ist, als Person aufdrängt. Diese Gestalt kehrt
als „Irrsinnige" wieder, hier gesteigert zu eminentem
Ausbruch. Ein Tobsuchtsanfall mit den
bezeichnenden Erscheinungen femininer Entartung
. Grauenvolle Wirklichkeit zum großen
Moment künstlerischen Schauens erhoben.
Oder das Bildnis „Uzarski", wo die veristische
Maske sinkt. Diese meditierende Gestalt, von
deren lichtumsäumten Händen Funken in die
blaue Nacht hinaus zu knistern scheinen; diese
Fluchtlinie phantastisch gehäufter Architekturformen
, dieinkorrespondierendenEmpfindungs-
wellen das magische Spiel der Hände, des ganzen,
seltsam akzentuierten Umrisses der Gestalt aufnimmt
,— eine zwischen Persiflage und Erhabenheit
gaukelnde Vision!
Letzten Endes, wo hinaus ? Wird es immer bei der
Grimasse bleiben ? Das Problem Dix ist kein ausschließlich
künstlerisches, es ist das Problem der
Zeit. Eines Tages werden die Reflexe von Krieg,
Revolution und Inflation verlöschen und der
großeSpiegel wird andere Bilder zurückwerfen.
Daß Dix auch rein artistisch genommen, auch
da, wo er Ulenspiegels Geißel fallen läßt, ein
bedeutender Künstler ist, wissen wir. Er bedarf
der Tendenz, die ihn hochgeschleudert hat,nicht,
um sich oben zu halten. Das erfahren wir aus
einzel nen seiner Bildnisse: dem ernsten, ehrlichen
Doppelbildnis seiner Eltern mit dem Alltagsgeruch
von Mühe und Arbeit oder etwa dem
Aquarell-Bildnis des Regierungsrates N., einer
seelisch ungemein vertieften Leistung, in der das
sehr sensitive und fast schmerzhaft empfindsame
Leben vergeistigter Züge mit taktvoller Behutsamkeit
bloßgelegt ist. Mela Escherich
STENDHAL UND DIE ITALIENISCHE KUNST*)
(2. TEIL)
Bei dem Kapitel Masaccio spürt man, wie oft
S tendhal in die Kirche der Carmeliter in Flo-
renz gepilgert ist; alles ist erlebt und geschaut.
„ Im Ausdruck liegt die ganze Kunst", heißt es
da. Stendhal meint damit das, was Vasari terri-
bilta nannte. Bei Fra Filippo werden uns tüchtig
Anekdoten aufgetischt, die meisten sind
falsch, aber lustig; wichtig ist aber, daß Stendhal
die hervorragende malerische Begabung
Fra Filippos durchaus begriffen hat. Nun kommen
Jubefrufe über die Erfindung der Oltech-
nik, wobei Stendhal nur leider vergißt, zu erwähnen
, daß ein Deutscher, nämlich Lessing,
in Wolfenbüttel das Manuskript des Theophilus
Presbyter wiedergefunden hat. Sehr kurz wird
Botticelli behandelt, dieser Maler dringt nicht
in Stendhal ein. „Seine Figuren besitzen weder
Anmut noch Schönheit", heißt es da. Das Urteil
stammt von Lanzi. Ob er die Primavera
und die Geburt der Venus gar nicht gekannt
hat? In der Tat ist ja Botticelli erst von den
Präraffaefiten wieder entdeckt worden. Dagegen
wird Ghirlandajo als der Meister der
Luftperspektive gefeiert. Besonders imponierte
es Stendhal, daß Ghirlandajos Schüler sogar
„Wäschetrulien" bemalt hätten. In der Tat,
das haben sie, namentlich Bartolommeo di Giovanni
und Jacopo del Sellaio. Diese Malereien
sind durchaus nicht kunstgewerblich, sondern
haben die volle Bildkraft und führen die Profanmalerei
, namentlich die mythologische, mit
zartesten Reizen vor. Ein gewisser Paul Schubring
hat 1000 Cassonebilder des Quattrocento
zusammengefunden und ein dickes Buch darüber
geschrieben. — Ich übergehe das, was
Stendhal über Verrocchio, die Pollaiuoli und
Signorelli sagt — alle diese Kleinmeister will
er vergessen, um in der Seele wieder Raum für
Leonardo zu schaffen. Da steht ein originelles
Gleichnis: Ein Weib ging durch die Straßen
Alexandriens in Ägypten, barfüßig, mit wirren
Haaren, eine Fackel in der einen, einen Wasserkrug
in der andern Hand tragend, und sprach:
„Mit dieser Fackel will ich den Himmel verbrennen
und mit diesem Wasser die Hölle auslöschen
, damit der Mensch lerne, Gott um seiner
selbst willen zu lieben." Und dann folgt ein
prinzipielles Kapitel über den großen Künstler
als Typus, mit köstlichen Bemerkungen, z. B.:
„Man kann ein großer Feldherr und Gesetz-
- geber sein und doch nicht das mindeste Fein-
*) Siehe auch das Dezemberheft dieser Zeitschrift, S. 80 ff. gefühl besitzen". Stendhal sagt, das südliche
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