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schenherzens hineinleuchten und mir solche
Schönheiten fühlbar machen, die meine Seele
zu empfinden vermag, die aber mangels Belehrung
nicht durch meinen Geist gehen konnten
. Daher kommt es, daß ein geniales und folglich
originales Bild weniger Bewunderung findet
als ein Bild, das sich kaum über die Mittelmäßigkeit
erhebt." — „Eine kalte Seele wie
Mengs müßte den Tintoretto verabscheuen. Begeisterung
mid eine gewisse Lebensklugheit lassen
sich ebensowenig vereinen wie Feuer und
Wasser, Freiheit und Despotismus, Tasso und
Hume." Endlich das Bekenntnis: „Ich bin
zwar kein Künstler, trotzdem weiß ich nicht,
ob ich, zur höchsten Macht gelangt, nicht die
Luxembourg-Galerie ansteckte, die so vielen
Franzosen den Geschmack verdirbt."
Nun schiebt Stendhal zwei Bucher über die
antike Schönheit ein; eine um 1811 unentbehrliche
Diskussion. Er sagt darin, was er von
der Antike für ewig hält, worin wir außer und
über ihr stehen. Hier ist er so recht in seinem
Element, geistvolle allgemeine Räsonnements
anzustellen, die sich von dem eigentlichen Thema
weit entfernen. Wir erfahren etwas über die
Scharfsinnigkeit der Wilden, über das Sparsamkeitsprinzip
in der Kunst, über die sechs
Menschenklassen (sanguinisch, gallig, phlegmatisch
, melancholisch, athletisch und nervös);
ein Kapitel heißt: „Man weiß stets, was nicht
zu wissen lächerlich ist", ein anderes: „Das
tätige Leben macht gleichgültig gegen die
Kunst." Alles ist wieder interessant, weil eigenartig
, und Einzelbemerkungen sind höchst kostbar
. Güle, Weisheit und Kraft sieht er im
griechischen Gott — Winckelmann hatte die
Güte übersehen; Michelangelo freilich auch.
Das Wort Augustins wird zitiert: „Ein leidenschaftlicher
Mensch, der sich dem Kunstgenuß
hingibt, findet alles in seinem Herzen". Stendhal
sieht mit Recht in den Italienern seiner Zeit
die besten Illustratoren für die antike Form und
Gesinnung; ein wesentliches Schönheitsmoment
sieht er in den Nasen, die von Mailand bis Taren t
immer größer würden. Der Coriolan bei Titus
Livius und bei Poussin wird verglichen, bald
darauf Vergil und Tasso. „Das Unbestimmte in
der Kunst ist das Falsche" — und gleich darauf
ein Hieb auf den armen Schulfuchs Kant, der
dunkle Worte Ideen nenne; solche Leute seien
verraten und verkauft, wenn man ihnen zurufe:
„Seid doch klar!" Hier rührt Stendhal an eine
unüberbrückbare Kluft, die Romanisches und
Germanisches für immer trennt. Der Deutsche
sagt: Dunkelheiten sind erwünscht, Klarheit
wird bisweilen geduldet; der Franzose sagt:
Klarheit ist unbedingt nötig, Dunkelheit stets
ein Fehler. Der Franzose nimmt Wagners Dunkelheiten
mit in den Kauf, weil die Musik so
süß ist; dem Deutschen sind die dunklen Steilen
die kostbarsten.
Stendhal ist weit davon entfernt, die griechische
Kunst für ein Vorbild aller Zeiten zu halten.
Eine griechische Tempelfassade kann man nicht
„nach Paris importieren, wo man vor die Säulen
ein Zeltdach spannen muß, wenn der Präsident
vorfahrt." Gesetze und Richtungslinien, aber
nicht Muster! Dann fährt erfort: „Es muß leider
gesagt werden: um die antike Schönheit zu empfinden
, muß man keusch sein." Öfter kehrt
der Gedanke wieder: ein von der Liebe bewegter
Mensch ist vor Bildern blind. Sehr geistvoll und
willkürlich sind die Kapitel über die Temperamente
. Da müßte man seitenlang zitieren. Kluge
Urteile über die einzelnen Völker, auch über
Deutsche, Holländerund Russen. Der Melancholiker
ist hauptsächlich in Deutschland zu finden:
„Da erschießen sich die jungen Liebhaber haufenweise
; das erfordert weniger Energie, als seine
Geliebte ins Ausland zu entführen und mit ihr
von seiner Hände Arbeit leben." Köstlich ist die
Geschichte vom Abbe de Voisenon: „Tatsache
ist, daß er eines Tages auf den Tod lag und seine
Dienstboten fortgingen, um für die Sterbsakramente
zu sorgen. Inzwischen lobt der Sterbende
wieder auf, zieht einen Uberrock an, greift zur
Flinte und geht durch das Parktor. Unterwegs
begegnet er dem Priester, der ihm die St erb-
Sakramente bringt, mitsamt der Prozession. Er
kniet nieder wie die anderen Vorübergehenden
und setzt seinen Weg fort. Der Priester kommt
mit dem Leib Gottes und den Dienstboten in
sein Haus. Man sucht den Sterbenden überall und
erblickt ihn endlich auf einem nahen Hügel, wie er
Rebhühner schießt." — Die leltere di Jacopo Or-
tis von Ugo Foscolo, dem italienischen Werl her,
werden ein „leidliches" Buch genannt; das wundert
mich, denn es ist doch sehr zärtlich.
Das letzte Buch, über 100 Seiten stark, ist ganz
Michelangelo gewidmet; es fußt in der Hauptsache
auf Condivi und ist zweifellos interessanter
als Hermann Grimms Buch. paul Schubring
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