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Reizen, — das ist die belebte Architektur des
18. Jahrhunderts, das ist das Ornament, das man
fälschlich verachtet, denn dieser schmuckreiche
Stil ist gerade die Synthese der Architektur.
Das Emporgehobene, die stärkste Wirkung der
Modellierung, scheint die Vorsprünge zu vervielfachen
, indem es zugleich die Einfachheit bekräftigt
und erhöht. Doch diese Wirkung wäre hinfällig
, wenn die erhabene Partie nicht mit allen
andern übereinstimmte. Die Modellierung muß
„Einheit" haben, diesen weiblichen Proteus muß
der Bildhauer fassen, sonst ist er immer der Betrogene
! Und er wird die Einheit nur dann erlangen
, wenn er die Gesamtheit der Profile in
sich fühlt.
An antiken Marmorwerken sind alle Vorsprünge
abgerundet, alle Winkel abgestumpft. Die Krümmungen
sind von Grazien entwarfen. Kein anderes
Volk als das griechische hat diese Lebensfrische
, diese Jugend besessen. Frankreich hat
Feinheit, Esprit; doch diese höchste Energie in
der gedämpften Modellierung hat ihm vielleicht
gefehlt. An der französischen Skulptur wird das
Delikate manchmal mager, das Zarte verliert den
Ausdruck und das Unsagbare erscheint unreal; das
Angenehm-Lustvolle überwuchert. — Die eigent-
licheTugend der Form aber ist ernster und ruhiger,
ist normal wie das Himmelsgewölbe.
Der griechische Marmor kennt keine Härten, dieser
Meister aller Meister. Der griechische Bildhauer
füllte die Höhlungen, rundete die überflüssigen
Vorsprünge ab, die stören und schließlich
doch nur von der Atmosphäre abgeschliffen
werden. So gelangte er zu einer Form, die an der
Umgebung, an der Atmosphäre teilnimmt. Er
arbeitete mit fieberhafter, aber luzider Energie
und ließ sich nie dazu hinreißen, die Natur durch
das Löcherige, das Magere, das Frostige zu entstellen
. So hat er sein unsterbliches Werk geschaffen
, das der moderne Künstler entdeckt und
nach langem, mühsamem Studium, zwanzig Jahre,
nachdem er es zum erstenmal gesehen hat, versteht
: dann erst kann auch er den Kampf mit dem
Marmor aufnehmen und sein Werk der Unsterblichkeit
weihen.
Louvre. — Die Form der göttlichen Nacktheit!
Meine Erinnerungen schweifen unaufhörlich mit
freudiger Andacht zur Venus von Milo zurück,
der Nährmutter meiner Seele.
Die Vollkommenheit dieser glatten Glieder steht
wieder vor meinem Geist, wenn ich an die weiten
Säle mit herrlichen Marmorbildwerken denke.
Dort herrschte heilige Tempelstimmung; sie ist
geblieben. Dort habe ich diese erhabene Form
kennen gelernt, die ich im Nackten sehe, in ihr
habe ich mich geläutert, sie hat sich in mein Leben
, meine Seele ergossen und in meine Kunst,
die mein letzter Lebensquell, mein letzter Gedanke
sein wird.
Die Modellierung ist eine Kraft, durch Studium
dem Gesetz der Sonnenwirkungen abgelistet. So
belebt, nimmt diese Kraft am Leben teil, zirkuliert
im Werke wie Blut, um dessen Schönheit
zur Bewegung zu bringen.
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