http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_53_1926/0230
TINTORETTO
MOSES SCHLÄGT WASSER AUS DEM FELSEN
Venedig, Scuola di S. Rocco
diglich das Licht vernichtet alle Schranken der
beharrenden Materie. Jedes Erlebnis wird geistiges
Gleichnis. Deshalb ist auch in der Stimmungs
-Märchen-Landschaft mit der „Hl. M.
Magdalena Aegyptiaca" alles erregte Vision. Die
Sehnsucht der Büßerin wird unsere Sehnsucht.
Ihre Verzückung teilt sich den grünlichen
Wasserkaskaden und den flimmernden gelblichen
und bräunlichen Lichtern auf den Blättern
des Laubes mit. Jetzt hat Tintoretto endgültig
die Farbenperspektive an die Stelle der
Linienperspektive gesetzt. Jetzt will er nicht
mehr die Schilderung des ruhigen Seins, sondern
nur noch das Fluten der Bewegung. Deshalb
muß er auch immer mehr alle Einzelheiten
dem Gesamtrhythmus opfern. Deshalb
spielen auch seine Farben nur noch im Zusammenklang
des Ganzen eine Rolle. Er ist in
der Tat der innerlichste aller Italiener, der
seine visionären Phantasien mit erlebt und der
uns mitten in das Erlebnis hinein versetzt. Er
überrascht, er fasziniert, aber er ist kein Blender
, er bleibt deutlich und phantastisch zugleich.
Mit der Lebensfreude und Lebensbejahung der
Renaissance allerdings ist es vorbei. Der Leib
ist Gefäß der leidenden Sehnsucht, die die
Hülle des Körpers sprengen möchte. Aber noch
spüren wir nichts von der Askese und Weltflucht
des spanischen Barock.
Selbst das Gemälde der „Steinigung des hl. Ste-
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