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das kann niemand wollen. Das hat einer oder
er hat es nicht.
Und wenn es auch unserer als nüchtern verschrienen
Zeit durchaus nicht an K iinstlern mangelt
vom echten Blut des Dichters und Künstlers
, so wird doch oft genug uns bewußt, wie weit
der Weg von der inneren Empfindung bis zum
Bilde. Die restlose Wiedergabe der ganzen inneren
Fülle echterEmpfindung—das bleibt schier
immer und war immer ein Ereignis — gab immer
unsterblichenRang. Naager strotzt ja vonLebens-
lust undLebenskunst und wenn er auch lange genug
darum gekämpft haben mag; seine inneren
Gesichte impetuoso ohne jede Falschheit niederschreiben
zu können mit Griffel oder Pinsel —
jetzt ist er so weil, jetzt kann er, wie kaum ein
anderer, alles sichtbar, fühlbar machen, was er
an Lebensfülle, an Humor, an Frische als künstlerischer
Schauer ins Leben besitzt. Die Zeichnungen
zeigen keine Hemmungen, die sich sonst
einstellen zwischen Empfinden, Wollen und Ausführen
. Er ist Dichter und Könner in Einem.
Das eine muß er wohl immer gewesen sein, aber
das andere ist er noch nicht gar so lange im gleichen
Maße. Für jene Siebengescheiten ist das
ja was Schrecklich es: als Maler auch noch Dichter
zu sein.
Aber versteht Naager nicht sein Handwerk wie
irgendeiner als Maler wie Zeichner?
Wie drehen sich seine Körper, Köpfe, Augen.
Wie lachen, trotzen, blinzeln, wüten, genießen
sie alle, die Naager zeigt. Wie versteht er sich
auf die Kunst des Abkürzens, Andeutens! Er
betont nicht sichtbar, er verschleiert. Er experimentiert
nicht in geistreichen Evolutionen, er
trifft. Er hat nichts dekorativErzwungenes,nichts
linear Absichtliches. Frei, leicht, spielend, sich
verlierend in Traum und Schauen, lebt alles auf,
wie eine andere, viel schönere, viel wahrere
Wirklichkeit als die, in der wir Almliches, in
der auch der Künstler nur Ahnliches gesehen
haben mag, nie aber so viel, wie er uns gibt.
Man vergleiche nur recht tüchtig Werke ähnlicher
Künstler, Bilder ähnlichen Themas, dann
wird gewiß gefühlt, wie der eine zu viel gibt,
der andere immer um etwas zu wenig, um jene
reine freie Illusion zu schaffen, die erst aus
Alltäglichkeit ins dauernd Ungewöhnliche führt.
Leiden doch selbst Bilder guter Humoristen
zu leicht durch ein kleines Etwas, das nicht ganz
wahr, das erdacht, gemacht, und nur erstudiert
ist.
So geübt Naagers Hand, erstudiert ist nichts
auf den Zeichnungen, aber potenziert, transponiert
ins Zeitlos-Wahre, ins erhöhte Dasein. Ist
in seinen Blättern und Bildern alles Sehen. Es
ist so potenziert, daß es ekstatisch wirken kann.
Denn so wie Naager den Don Quijote gibt oder
das halbentblößte Weib vorm Kaminfeuer oder
den alten Maler, der nun statt Marquisen Dirnen
malt oder den Plafondmaler oder die Galgenvögel
, ist alles nur dichterisch wirklich.
Naager liebt nicht nur Magnasco vor andern.
Er ist so etwas wie der Magnasco unserer Zeit.
Aber keine Wiederholung. Denn viel mehr
Dinge sind bei beiden ganz anders, als daß diese
ähnlich genannt werden könnten. Aber über
die Jahrhunderte hinweg verbindet sie das gleiche
Blut und Temperament.
In jener Ausstellung Naagers, von der anfangs
und s. Z. in unserer Zeitschrift eingehend die
Rede war, — und von der leider fast alles sonst
wohin, selbst in die Neuyorker Staatssammlung
verkauft wurde, waren essende Bettlerbuben
von so malerischem Wurf, von solcher Echtheit
des Genießens, daß ich die Kunstketzerei
nicht scheue zu sagen: das war unmittelbarere
Kunst als die, von der Murillos so reale Bettelbuben
zeugen.
In einer Hinsicht kommt mir Naagers Kunst
vor wie eine Erfüllung dessen, was ein Wilhelm
von Diez, mit dessen Kunst er entschieden verwandt
, gewollt und erstrebt hat. Gewiß fehlte
es dem nicht an Temperament, aber noch an
einem Etwas, die ganze Ursprünglichkeit und
Schau- und Lebenslust auch auf die Fläche zu
bannen. Denn noch einmal sage ich: das Wesentliche
der Naagerschen Kunst ist die Kongruenz
von Temperament und Können, Sehen, Fühlen,
Genießen und Darstellen.
All sein Schaffen erscheint nun wie Vorbereitung
auf diese restlos freie Äußerung seiner
mehr inneren als äußeren W elt.
Und wenn ich mir denke, in Jahrhunderten
wüßte man nichts mehr von seinem Namen,
dann wird man seine Werke zu sammeln anfangen
unter dem Namen des „Meisters der
lustigen Atelierszenen". e. W. Bredt
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