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PICASSOS KLASSIZISMUS
Die Themastellung verlangt zwei grundsätzliche
Klärungen. Erstens: Was verstehen
wir in diesem Zusammenhang unter Klassizismus
? Zweitens: Wie fügt sich der so verstandene
Klassizismus ins Gesamt werk Picassos ein?
Aus beiden Fragestellungen erhellt schon, daß
es hier nicht um jene von der aktuellen Kunstliteratur
als neoklassizistisch bezeichnete Malperiode
Picassos geht, mit der der Künstler von
1917 ab auch seine Anhänger verblüffte. Und
aus ihrer Beantwortung wird deutlich werden,
daß hier ein das ganze Schaffen dieses Malers
durchziehendes Prinzip zur Diskussion gestellt
wird, das ohne gleichlaufende Zeiteinflüsse nicht
zu erklären wäre.
Unter Klassizismus sei hier jenes klärende Prinzip
verstanden, zu dem die Kunst immer wieder
nach aufgeregten und sich in Idealismen verlierenden
Zeiten zurückkehrt, wobei die Anlehnung
an die traditionelle Klassik eine gewisse
Regulatur verbürgt. Im historischen Klassizismus
um 1800 ist diese Eigenart am kräftigsten
hervorgetreten und so zu einem eigenen Stil erstarkt
. Und hier zeigt sich auch sehr deutlich,
welchen Anteil das Zurückgehen auf naturgegebene
Form weiten an dieser Gestaltklärung hat,
so daß man berechtigt ist, von einer idealistischen
und einer naturalistischen Komponente
des Klassizismus zu sprechen. Es ist eine innere
Zucht, die im Klassizismus wirksam ist, ein
Regulativ der Strenge und der Bescheidung.
Aus solcher Einsicht lassen sich alle Merkmale
des Klassizismus unschwer ableiten.
Wie fügt sich der so verstandene Klassizismus
ins Gesamtwerk Picassos ein? Wir überschauen
dieses Gesamlwerk. Drei Wesenskomponenten
scheinen sich in ihm zur Einheit zu fügen. (Einheit
trotz aller für den Oberflächenblick als
Sprünge erscheinenden Wandlungen!): Das im
Grunde treibende, zu starken Äußerungsformen
gelangende Dekadenzgefühl, der alle Formen
in ihre wirksamste Augensicht treibende Dekorativismus
, und jener Klassizismus, der um 1917
die ganze Kraft des Bildnerischen in sich aufzusaugen
schien. Um die komplexe Gestalt des
Künstlers aufzuzeigen, müßten jetzt die Mischungen
, die diese Komponenten miteinander
eingehen, sowie die gegenseitigen Verstärkungen
und Kompensationen, zu denen sie aufeinander
wirken, aufgewiesen werden. Auch die eigentümliche
Brechung, die jede dieser Komponenten
durch das in der Tiefe treibende spanischmaurisch
-jüdische Bhit erfährt, wäre zu beleuchten
. Es wäre Anlaß zu einer umfänglichen
Analyse. Hier kann nur die durchgehende Wirkung
der klassizistischen Wesenskomponente
Picassos betont werden. Nicht zum geringsten
Grunde deshalb, weil in ihrem Walten jenes
Wesensprinzip Picassos zum Ausdruck kommt,
das am ehesten eine Weitung und Kräftigung
dieses großen Talents zu einer mehr als nur aktuellen
Wirkung verspricht.
Auch wenn uns der frühe Hang Picassos zum
Klassizismus nicht aus Gesprächen und aus andern
aufgezeichneten Erlebnissen verbürgt wäre,
müßten wir ihn aus Bildern erkennen, die um
die Jahre 1903— 1905 entstanden sind. Die R äum-
lichkeit, soweit sie überhaupt empfunden ist,
wird in die beruhigte Fläche gesammelt. Und
sie, die Fläche, gibt ihr Innenleben ab an den
Kontur, der als „gefühlte Linie" Hauptausdrucksträger
dieses Sehens wird. Ein Bild wie
das: „Knabe mit Pferd" (1905) ist für diese Art
eines gemäßigten Klassizismus sehr bezeichnend
. Es ist deutlich: Picasso wandelt auf Ce-
zanneschen Spuren. Aber vielleicht ist es die
Einwirkung des Dekadenzgefühls, was das elementare
Sehen des Meisters von Aix hier ins
Klassizistische erweicht. Und die gleiche Erweichung
entfernt auch zugunsten einer klassizistischen
Note von dem andern Pol plastischen
Sehens: von Marees, an den man motivisch hier
erinnert wird. Dessen räumliche Intensität wird
hier auch durch eine leise dekorative Absicht
neutralisiert.
Wie in den kubistischen Versuchen dieser
Hang zum Klassizismus sich auswirkt, wurde an
anderer Stelle ausführlich erläutert*). Was beim
ersten Hören als Paradox wirkt, die klassizistische
Grundnote des Kubismus, das wird bei
genauerem Studium zur aufschlußreichsten Beziehung
für das Wesen dieser Kunstrichtung
und dieses Künstlers. Erst wer das peinliche
Streben der Kubisten nach innerer Ausgewogenheit
des Bildganzen als latente Klassik erkannt
*) In dem Aufsatz: „Der Neoklassizismns in der jüngsten
französischen Malerei". Im Jahrbuch für Philologie, München
1925.
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