http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_53_1926/0298
gangen wäre, an welchem er es nicht besser befunden
hätte, aus dem Leben zu scheiden. Seit
1911 etwa werden die Stimmen aus der Dunkelheit
lauter. Erschütternd mehren sich in dieser
Niederschrift Sätze wie: „Ein fortwährendes
Streben, meinZiel zu erreichen, das ich in diesem
Grade niemals erreichte, hat mein Leben vergällt
und jede Arbeit endet mit Depressionen,
dieses Leben noch weiter führen zu müssen!"
Oder drei Monate vor dem Tode: „Es ist mir
zum Heulen. Ein Ekel vor jeder Malerei erfaßt
mich. Warum soll ich noch weiter arbeiten?"
AberwenigeZeilen später erkennt sein schreibender
Intellekt das, wonach seine malende Hand
die letzten Schaffensjahre gestrebt hatte und was
die eigentliche Alters weisheit des großen Genius
ausmacht. In seiner schlichten naiven Art spricht
er es aus: „Ein Neues habe ich gefunden: die wahre
Kunst ist UnWirklichkeit üben. Das Höchste!"
In diesem Geist schrieb Shakespeare „DasWin-
termärchen" und den „Sturm", Dramen,in denen
die Realität des Lebens in wundersamer musikalischer
Traumhaftigkeit aufgelöst wird. Un-
wirklichkeit war es, die den irrationalen Zauber
der Farbigkeit des alten Rembrandt ausmacht.
Sie war es schließlich auch, die den nach Klarheit
strebenden Goethe zum mystischen Ausklang
des Faust II führte.
Goethe sagt einmal: „Alter ist stufenweises Zurücktreten
aus der Erscheinung." Er meint das
gleiche, was Corinth mit „Unwirklichkeit" bezeichnet
. Die Fülle der Erlebnisse bei dem alternden
Maler wird grenzenlos. Das Erlebte überstürzt
sich und hebt sich selber auf. Weder das
dargestellte Objekt, noch das Ich des Künstlers,
noch der Reiz der Technik dominieren, wie dies
bei dem jungen Maler der Fall gewesen war. Es
bildet sich vielmehr eine höhere Einheit, in der
diese Elemente ausgeglichen werden und verschmelzen
. Man hat Corinth wie dem alten Rembrandt
einen Vorwurf daraus gemacht, daß seine
Porträts nicht ähnlich wären. Zu Unrecht! Die
Erscheinungswelt wurde ihm chimärisch. Die
Gestalt der sinnlichen Erfahrung war ihm bedeutungslos
geworden. Der Maler wurde zum
Schöpfer, der seine Gesichte aus dem mystischen
Urgrund der Welt holte. Das Geschaffene war
unabhängig vom ursprünglichen Objekt geworden
. Es hatte die gleiche Daseinsberechtigung
wie ein Stück Natur.
Will man Corinths Wesen und Art deuten, so
wäre vor allem nachzuweisen, wie sehr dieser
Maler ein Sohn seines Landes und wie fest er
mit dem Roden verwurzelt war. Seine vegetative
Art ist der Weisheit der Tiere verwandt. Sie
findet unter den Größen unseres zivilisatorischen
Zeitalters kaum eine Parallele. Seine Naivität
ist die Naivität der Menschen der Antike. Darauf
einzugehen oder uns mit den visuellen Dingen
des Werkes, der äußeren Form, der Komposition
, der Farbe auseinanderzusetzen, bleibt
hier kein Raum. Dieser Maler mit der geraden
und eigenen Linie war das sensible Reagens seiner
Epoche. Deutlich sind um 1910/12 die Spuren
des französischen Impressionismus (s. farbige
Tafel), der damals für ihn zum Erlebnis geworden
sein muß. So ist auch aus den W erken
des letzten Jahrzehnts die junge expressionistische
Bewegung nicht fortzudenken. Diese Aufnahmen
waren keine Beeinflussungen und Veränderungen
seiner Art. Er verleibte sie seinem
erdgebundenen, gewachsenen Dasein ein, wie
das Erlebnis des verlorenen Krieges, das ihn auf
das tiefste erschütterte.
Man darf nicht glauben, daß mit Corinths Krankheit
von 1911 ein Riß durch des Malers Leben
geht. Bei diesem Künstler gibt es überhaupt
keinen Riß. Der Schlaganfall war nur ein explosives
äußerliches Dokument dessen, was schon
in ihm arbeitete. Sein Werk führte nun im fortschreitenden
Maße zu einer Reife und Vergeisti-
gung, für die die äußere Geste nichts mehr bedeutete
.
Diese Vergeistigung war keine Askese, kein sich
Abwenden von dem sinnlichen Reiz der malerischen
Erscheinung. Im Gegenteil, die Farben
werden nun zuweilen zu einer Kostbarkeit, die
zum Tasten herausfordert. Seine Landschaften
und Blumen besitzen nun jene geheimnisvolle
Strahlung, die sonst nur von Juwelen ausgeht.
Nur in den Porträts verschwinden alle farbigen
Zutaten der Gewänder und des Hintergrundes.
Es tritt eine Toneinheit der Farbe auf, die auf
den ersten Blick oft monoton erscheint. In
Wahrheit funkelt in diesen blaugrauen oder
braungelben Tönen, etwa der Porträts von Ucke-
ley, Grönvold und Brandes oder im letzten
Selbstporträt ein blitzendes Feuerwerk. Aber
dieses bunte Sprühen ist in die Einheit des Grundtones
gebannt, um ganz das Seelische zur Sprache
kommen zu lassen. — Ungewöhnlich ist die Verschiedenartigkeit
der sich im Wesen doch gleich
bleibenden Technik. Der Pinselduktus wird
immer öliger und pastoser. Zuweilen ist es ein
Hieb mit zäher Farbe über das Bild laufend,
236
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_53_1926/0298