Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 53. Band.1926
Seite: 297
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/die_kunst_53_1926/0371
VON HERDER ZU — KANDINSKY

Die Kunsttheoretiker der Gegenwart sind im
allgemeinen so sehr von dieser ihrer Gegenwart
erfüllt, daß sie selten nur der Kunstanschauungen
entlegener Zeiten gedenken. Nur wird
hin und wieder mit deutlicher Mißbilligung von
Lessings „Laokoon" gesprochen oder auch von
Winckelmanns „Gedanken über die Nachahmung
der griechischen Werke". Auch kann es
passieren, daß einmal Goethe mit tiefem Respekt
oder — je nach der ästhetischen Einstellung —
mit leisem Kopfschütteln erwähnt wird. Aber
Herder nennt man nicht mehr, wenn von bildender
Kunst und ihren Aposteln die Rede ist.
Und doch steht von allen „praktischen Ästhetikern
" des 18. Jahrhunderts keiner der Anschauungswelt
modernster Kunst näher als Herder.
Man scheint es völlig vergessen zu haben, daß er
es war, der bei allem Respekt vor Lessing sich
am energischsten gegen die Knebelung der bildenden
Kunst wandte, die im „Laokoon" zu
einem glänzend formulierten, aber rücksichtslosen
Ausdruck gekommen war. Es mochte ihm
das AVort noch in den Ohren klingen, das er als
Student in Königsberg aus dem Munde Joh.
Georg Hamanns gehört hatte: „Wer Willkür
und Phantasie den schönen Künsten entziehen
will, stellt ihrer Ehre und ihrem Leben als ein
Meuchelmörder nach!"

Niemals dachte Herder daran, der Antike ihre
Bedeutung zu schmälern, aber man solle sie
nicht zum Gesetzgeber für die Kunst aller Zeiten
machen. In seinen „Fragmenten zur deutschen
Literatur" sprach er sich in der unzweideutigsten
Weise gegen die Nachahmung der klassischen
Kunst aus. Er will keineswegs, daß man
die Alten vernachlässige, ja er sagt sogar: „Will
ich jemand von der Kenntnis der Alten abhalten
oder ihn in ihrem Studium ermüden, der werfe
mein Buch ins Feuer", aber er betont, daß es
doch etwas anderes sei, sich in das Wesen fremder
Kunst zu vertiefen und zu verstehen versuchen
, aus welchen Bedingungen heraus sie
so ward, als sich zum Sklaven einer fremden
Kunst machen und inmitten einer neuen Kultur
arbeiten, als gehöre man einem vergangenen
Zeitalter an. „Nicht das ist großer Ruhm: Dieser
Dichter singt wie Horaz, jener Redner spricht
wie Cicero, sondern das ist ein großer, seltener,
beneidenswerter Ruhm: so hätte Horaz gedichtet
, Cicero geschrieben, wenn sie über diesen
Vorfall, auf dieser Stufe der Kultur, zu der Zeit,

zu diesen Zwecken, für die Denkart dieses Volkes
, in dieser Sprache geschrieben hätten". W as
vom Dichter gelte, gelte auch vom Künstler.
Diesen Standpunkt hält Herder zu allen Zeiten
fest. Er unterstützt Winckelmanns Beweisführung
, daß in Griechenland alle Voraussetzungen
für eine h oh e Kunst vornand en gewesen und folg-
lich eine herrliche Kunstblüte entstehen mußte;
aber er geht zu der Behauptung weiter: so habe
jedes Volk und jedes Zeitalter seine besonderen
Voraussetzungen für eine Kunst, die ihm und
nur ihm eigentümlich sei.

Herder verlangt, daß an die Stelle des Modegeschwätzes
über Kunst ein Urteil trete, das zunächst
nach den natürlichen Wurzeln der jeweiligen
Kunstübung frage. Hatte man einsehen
gelernt, daß jede gesunde Kunst aus dem Boden
ihrer Heimat hervorwachsen müsse, so mußte es
zur Selbstverständlichkeit werden, daß deutsche
Kunst deutscher. Eigen wuchs sein mußte. Das
Prinzip des natürlichen Wachstums der Kunst
und der dadurch bedingten Berechtigungjeder nationalen
künstlerischen Eigenart war gefunden.
Und wenn man alle Äußerungen Herders in be-
zug auf diese das ganze Zeitalter lebhaft bewegenden
Fragen durchmustert, so ergibt es sich, daß
er in j edem einzelnen Punkte in schroffem Gegensatz
zu Winckelmann und Lessing, zu Hagedorn
, Mengs und den anderen Kunsttheoretikern
der Zeit steht. Man kann seine künstlerische Weltanschauung
in die drei Sätze zusammenfassen:

1. Allgemein-gültigeKunstgesetze kann man aus
keiner Kunst ablesen, auch nicht aus der an
sich meisterlichen Kunst der Antike.

2. Jede Kunstäußerung ist herausgewachsen aus
den besonderen Bedingungen ihrer Zeit und
ihrer Nation.

3. Jeder rechte Künstler spreche seine eigene
Sprache, nicht die vergangener Zeiten, aber
auch nicht die seiner Nachbarn.

Das also waren Gedanken, die Herder als erster
aussprach und die er dann in Straßburg an Goethe
weitergab, als sich dieser mit junger Begeisterung
an ihn anschloß. Aus ihnen erwuchs Goethes
Hymnus auf das Straßburger Münster, aus ihnen
der begeisterte und begeisternde Ausruf: „Der
deutsche Genius will auf keinen fremden Flügeln,
und wären es Flügel der Morgenröte, emporgehoben
und fortgerückt werden."
Aus ihnen erwuchs alles, was daim in den nächsten
Jahrzehnten von Heinse, W ackenroder,

Die Kunst für Alle. XXXXI. 10. — Juli 1926

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