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Tieck und Schlegel über das Wesen der Kunst
geschrieben wurde. Aus ihnen das meiste, was
an gesunder, praktischer Ästhetik bis zum heutigen
Tage gedacht und ausgesprochen wurde.
Wirklich bis zum heutigen Tag?
Wie denken denn die Wortführer der Expressionisten
über diese Dinge ? Und gar diejenigen, die
einer „absoluten Malerei", der psychologischen
Wirkung reiner Farben und abstrakter linearer
Kompositionen das Wort reden?
Hören wir, was Wassili Kandinsky, dessen Einfluß
auf das Kunstempfinden deutscher Künstler
durch sein geistiges Zusammengehen mitFranz
Marc besonders stark war und ist, und der am
geistreichsten den Praktiker und denTheoretiker
modernster Kunst zu verbinden weiß, zu diesem
Thema zu sagen hat. In einem Aufsatz „über
das Geistige in der Kunst" sagt er die drei Sätze:
1. Jeder Künstler hat das ihm Eigene zum Ausdruck
zu bringen (Element des Personlichen).
2. Jeder Künstler hat als Kindseiner Epoche das
dieser Epoche Eigene zum Ausdruck zu bringen
(Element des Stiles, zusammengesetzt aus
der Sprache der Epoche und der der Nation).
3. Jeder Künstler hat als Diener der Kunst das
der Kunst im allgemeinen Eigene zu bringen
(Element des Rein-und Ewig-Künstlerischen,
das keinen Raum und keine Zeit kennt).
Man sieht sofort, die Sätze 1 und 2 decken sich
völlig mit jenen FIcrderschen Sätzen 2 und 3.
Der Satz 3 aber scheint in einem unüberbrückbaren
Gegensatz zu dem ersten der Herderschen
Sätze zu stehen. Denn hier wird von etwas „der
Kunst im allgemeinen Eigenen" gesprochen, also
doch wohl von irgend etwas im Wesen der Kunst,
das über dem Persönlichen des einzelnen Künstlers
und über dem nationalen und zeitlichen
Element erhaben ist, das also doch wohl auch
seine eigenen Gesetze haben muß. Das reimt
sich schlecht zu dem Herderschen Satze, daß es
keine allgemein gültigen Kunstgesetze gebe.
Aber sehen wir zunächst zu, was Kandinsk}" mit
dem ßegrifl" eines „der Kunst im allgemeinen
Eigenen, dem jeder Künstler zu dienen habe",
meint. Er spricht es an mehr als einer Stelle,
zumal im „Blauen Reiter", den er und Franz
Marc zusammen herausgaben, deutlich genug
aus. Auch er ist zu der gleichen Ansicht wie
andere heutige Forscher gekommen, daß es allerdings
allgemein gültige Kunstgesetze gibt, aber
nicht solche, die aus Kunstwerken irgendeiner
bestimmten Epoche abgelesen werden können,
auch nicht solche, die von geistreichen Männern
am Arbeitstisch ergrübelt werden können, sondern
nur solche, die Naturgesetze sind, Gesetze,
die sich aus dem Organismus der Menschen, aus
dem Bau seiner Augen, aus dem Rhythmus seines
Herzschlages, aus der ganzen psychophysiologischen
Einheit seines Menschseins ergeben.
Spricht gegen solche Gesetze die Flerdersche
These? Keineswegs. Sie richtet sich nur gegen
das künstlerische Konstruieren von Kunstgesetzen
aus vorhandenem Kunstmalerial, eben
gegen das, was Winckelmann und Lessing taten.
Ja, es läßt sich sogar aus Herderschen Worten
der Beweis erbringen, daß er allen drei Sätzen
Kandinskys, also auch dem letzten so nahe steht,
wie es in einem Zeitalter,dem physiologische und
psychologische Studien im modernen Sinn noch
überaus fern lagen, nur irgend möglich ist.
So, wenn Herder in seinen „Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit" sagt: „Was ist
das Hauptgesetz, das wir bei allen großen Erscheinungen
der Geschichte (also auch bei der
K unst)bemerken ? Mich dünkt dieses: daß allenthalben
auf unserer Erde werde, was auf ihr werden
kann, teils nach I-<age und Bedürfnis des
Orts, teils nach Umständen und Gelegenheiten
der Zeit, teils nach dem angeborenen oder sich
erzeugenden Charakter der Völker . . . Lebendige
MenschenkräftesinddieTriebfeder derMen-
schengeschichte; und da der Mensch seinen Ursprung
von und in einem Geschlechte nimmt,
so wird hiermit schon seine Bildung, Erziehung
und Denkart genetisch." Und einmal sagt er ganz
knapp: „Das Gesetz der Notwendigkeit, das aus
Kräften,Ortund Zeit zusammengesetztist,bringt
überall andere Früchte." Also die Kraft der Menschen
, das Allgemein-Menschliche, ist auch für
Herderdas Vorausgesetzte. Dieser Keim, dieses
Samenkorn wird in irgendein Erdreich hineingelegt
. Und nun beginnen die Säfte der Scholle,
die Wärme und Feuchtigkeit des Klimas und
hundert andere Dinge einzuwirken, bis die besondere
Frucht, das einzigartige Individuum entstanden
ist. Da haben wir also den Dreiklang:
das Allgemeingültige, das durch die Umwelt Bedingte
, das Individuelle, just wie bei Kandinsky.
In der Theorie steht die künstlerische Weltanschauung
der Neuesten also keineswegs in einem
Gegensatz zu den Anschauungen aller Kunstphilosophen
der Vergangenheit. In dieser Beziehung
ist der Gegensatz zwischen Lessing und
Herder größer als der zwischen Herder und
Kandinsky. In der Praxis dürften allerdings die
Dinge wesentlich anders liegen. Th. Yolbehr
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