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Gebäuden schaffen sollten. Aus diesem Aufgabenkreis
entstanden vier großeFassadenfiguren
furdasStadttheater, Portalgestalten für verschiedene
Schulen, Reliefs und Gruppen an der Sparkasse
, der Stadthalle usw. Sie sind im Gegensatz
zu der porösen Formbehandlung Rodins in
glatten Flächen angelegt und streng architektonisch
dem Baukörper als dienendes Glied eingefügt
. Der rein funktionelle Sinn der Figuren
ohne allegorisches Beiwerk mißfiel der Hagener
Bürgerschaft. Erst durch das Eingreifen von
Gaul, Justi, Tschudi und Swarzenski ließ sich
die Entrüstung der guten Gesellschaft Hagens
beschwichtigen. Die Empörung, die rückwärts
schauend, kaum verständlich erscheint, hatte in
dem Zeitpunkt, in dem sie sich ereignete, vom
Standpunkt des Spießergeistes aus ihre guten
Gründe. In den Arbeiten Milly Stegers trat ein
Formwille in Erscheinung, der mit souveräner
Gewalt zuneuenWerten drängte. In tensive Ausdrucksgewalt
und Neuprägung der konstruktiven
Elemente, des kubischen Gehalts und der Flächen
des menschlichen Körpers.
An diesen monumentalen Aufgaben reifteMilJy
Steger heran. Sie lernte die Bewältigung des Materials
, dieVereinfachungund Zusammenfassung
der Ausdrucksmittel, Selbstbeherrschung. Als
in den folgenden Jahren die Hochflut des Expressionismus
über Deutschland dahinbrauste,
erlag sie ihr nicht, sondern stand aufrecht, nahm
nur das, was ihr durchgereiftes Können, ihr disziplinierter
Geist verarbeiten konnte. Daraus ergibt
sich, daß die Arbeiten ihrer expressionistischen
Epoche Haltung, Würde, Maß zeigen und
zwar in so hohem Maße, daß sie auch heute noch
nicht veraltet sind. In dem „Aufschwung" spürt
man das sichere architektonischeGefdhl,imAuf-
bau einer Figur, in der „Tanzenden" die überlegene
und überlegte Nutzanwendung des Primitivismus
auf den menschlichen Körper, in dem
„Tanzenden Paar" die Ubersetzung eines musikalischen
Rhythmus in eine plastische Gruppe.
In den beiden „Gruppe" betitelten Frauen zeigt
sich das Gebändigte ihres Ausdrucksstrebens.
Dadurch heben sich ihre Arbeiten über den expressionistischen
Durchschnitt. Manbegegnetin
ihren Werken keinem zügellosen Aufjauchzen,
keiner haltlosen Verzweiflung, also auch keinen
ausladenden Gesten. Die Körper verschlingen
sich, drängen, sinken zueinander. Das Seelische
tritt nur verhalten, gedämpft in Erscheinung:
in einer überschlanken Gestrecktheit, durch eine
Handbewegung, durch die sinnliche Olfnung
eines Mundes, durch eine Leidenslinie um die
Lippen,durch das melancholische Schließen der
Augen. Der vorgebaute, leicht geöffnete Mund
des „Tunesischen Mädchens" ist von lebensvoller
Süße, die die hochgereckte Anmut des Körpers
noch steigert. Die zauberhafte Lieblichkeit der
einfach gebauten Formen ihrer Plastik hebt ihr
bisheriges Lebenswerk zu übernationaler Bedeutung
. Nicht laut genug kann gerühmt werden,
daß die deutsche Skulptur der Gegenwart in
Milly Steger eine Kraft besitzt, die das Starke
mit dem Zarten zu vereinen weiß, die in fast
archaisch primitiven Körperbildungen glühendste
Lebensinbrunst gießt. Einfach und differenziert
, kühl und heiß zugleich sind die Plastiken
dieser selten begabten Frau. Eine solche Künstlerin
hat schon, bevor sie Bildnisse geschaffen
hat, ihre Begabung für das Porträtfach erwiesen.
Es sind Frauen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten
, die sie dargestellt hat. Daher sind
sie in der Auffassung und im Formaufbau verschieden
. Zur Intensivierung des Ausdrucks ist
der Kopf der dem Leben Zugewandten leicht
zurückgebogen, sind ihre Lippen lebhaft geöffnet
, um den Atem der Welt einzutrinken.
Der Kopf einer anderen bietet fest und ruhig
sozusagen im Bewußtsein der Hoheit des Geistes
dem Leben Trotz. Die ruhig aufeinanderliegen-
den Lippen sind herb; das ganze Gesicht trägt
die Züge erhöhter Vergeistigung.
Milly Steger ist schon heute in vielen großen
Museen Deutschlands vertreten. Aber dort
finden sich immer nur einzelne Werke. Ihr
wahrer Wert tritt erst in der Sammlung eines
Kunstfreundes in Gera in Erscheinung, der
über dreißig Arbeiten von ihr vereint hat.
Dort erweist sich ihre Vielseitigkeit. Dort zeigt
sich, daß es in ihrem Schaffen keinen toten
Punkt gibt. Jeder weiß, daß die Vereinigung
vieler Arbeiten ein und desselben Künstlers
die gefährlichste Probe für ihn sind — Milly
Steger hat diese Probe glänzend bestanden.
Otto Grautoff
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