Augustinermuseum Freiburg i. Br., [ohne Signatur]
Die Kunst: Monatshefte für freie und angewandte Kunst
München, 53. Band.1926
Seite: 350
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DIE STELLUNG DES PORTRÄTS UM 1800

11.

In dem französischen Porträt zur Zeit der Jahrhundertwende
spielt bei der Durchschnittsproduktion
ein stark genremäßiger Zug eine bestimmte
Rolle, wie Diderot die Forderung aufgestellt hatte:
ein Porträt muß handeln. Da stützt sich eine Frau
auf eine Harfe, oder ein Mann hält eine Kunstzeitschrift
in den Händen; ein junges Mädchen
erscheint als Unschuld mit zwei Tauben, ein anderes
weint über eine Stelle aus Atala; eine Dame
besieht sich ein Buch mit Zeichnungen. Ein Herr
erscheint mit seiner Gattin, ,,ä laquelle il indique
une sonate depiano"; oder es erscheint einMädchen,
das neben dem Klavier in einem Notenheft blättert,
eine junge Frau, die ihrem Geliebten eine Lyrastunde
gibt usw. J. L.David, der führende Meister
dieser Zeit, steht mit seinen heroischen Porträts des
Marat oder Napoleons auf dem St. Bernhard doch
vereinzelt da; und auch er zeigt sich in dem frühen
Familienbild des Michel Gerard, wo eines der Kinder
Klavier spielt, der gleichenTendenz huldigend.
Hier wie in anderen Porträts bis zur Jahrhundertwende
bringt auch er nicht die ganze Figur, sondern
nur Kniestück. Mme. Recamier und Napoleon
sind erst 1800 entstanden.
In Deutschland erscheint schon am Ausgang des
Rokoko häufiger das Ganzfiguren - Porträt als
Genrebild, und zwar bezeichnenderweise gern
die Familie des Künstlers — so die Klippe des Konventionellen
nach Möglichkeit glücklich umschiffend
und Erlebnischarakter tragend. So malt Cho-
dowiecki seine Familie, das sogenannteTiergarten-
bild; freier schildert sich I. H. Tischbein d.Ä.,
wie er in seinem Atelier dem Klavierspiel seiner
ältesten Tochter lauscht, zeigt Öser seine Kinder
in eifrigen künstlerischen Bemühungen. Von England
her wirkt die Vorliebe für Gruppenporträts
in freier Landschaft herüber, wie etwa bei dem
Familienbild der Angelika KauffmanninderLiech-
tenstein-Galerie. Immer aber steht das Malerische
im Vordergrund des Interesses; das plastische Interesse
an der Durchführung kommt in zweiter
Linie. Dies bringt dann erst der strengere Klassizismus
mit seiner Einstellung auf die menschliche
Figur und ihrer künstlerischen Bewältigung als
durchorganisierteErscheinung. Ein freilich nicht
restlos geglücktes Beispiel W. Tischbeins Goethe;
dann von dem genannten Schick das ganzfigurige
Porträt der Frau Dannecker von 1802 und die
mächtige Frau Cotta, sitzend in Landschaft), ein
deutsches Gegenstück zu Davids Mme. Recamier.
Ein Übergang zu dieser Art die Ganzfigurenpor-
träts, die so in Landschaft gestellt werden, daß
sie fast ganz von ihr umschlossen werden.
Die plastisch durchgearbeitete ganze Figur verschwindet
bald wieder, um der malerisch aufgefaßten
, bei starker Verkleinerung in den Dimensionen
, Platz zu machen. Der Art sind dann die
Interieur-, Atelier- und Fensterbilder der Kersting
und C. D. Friedrich, die in französischen Bildern
von „femmes ä leur fenetre" ihr Gegenstück finden
. Die plastische Durcharbeitung, wo sie doch
gegeben wird, beschränkt sich dann gern auf das
Halbfigurenbild. wobei Alt-Italienisches als Vorbild
wirkt (Overbeck, Familienbild von ca. 1823).
Dagegen zeigen auch Brustbild und Kopfstück
gegen Ende des Jahrhunderts neue plastische
Energie. Die Haltung wird straff, gern vertikal,
Kopf und Gesicht geradeaus, der Blick auf den
Beschauer gerichtet. Ein fester Wille, ein neues
Selbstbewußtsein spricht sich aus. Schonbei einem
älteren Meister wie F. A. Tischbein findet sich
dies in dem Porträt der Frau Bure von 1792; ausgeprägter
bei dem jüngeren Hetsch in seinem
Selbstbildnis. In den Jahren um 1810 bekommt
der feste Blick fast etwas fanatisch Loderndes; es
ist, als ob die innere Spannung dieser, der Befreiung
vorhergehenden Zeit sich hier körperlich
verdichtete. Vorbereitet in dem Gruppenporträt
Runges mit Frau und Bruder von ihm selbst, mit
der dringlichen Innigkeit im Ausdruck der drei
auf den Beschauer gerichteten Augenpaare; ausgeprägt
dann bei dem Porträt des Dr. Martini von
dem sanften Overbeck, dem jungen Franz Pforr
von demselben, dem Selbstporträt des Jak. Schlesinger
von 1810 —, das so knapp beschnitten ist,
als ob ein Altniederländer dabei Pate gestanden
hätte—bei demC.D.Friedrich von Kügelgen und
selbst bei dem Goethe desselben von 1810.
Dann tritt eine Beruhigung ein, die dannim eigentlichen
Biedermeier an Spießbürgerlichkeit streift;
aber ein Nachzittern der Bewegung ist oft genug
nicht zu verkennen ; so etwa noch in dem Jugendselbstbildnis
von Philipp Veit der mit dem fest auf
den Beschauer gerichteten Blick mit der erhobenen
Rechten zurück in die Landschaft weist.
Dieses Wiedergeben einer Handlung bedeutet
gleichfalls eine Aufnahme vonFrüherem; wir fanden
es bezeichnend für das französischePorträt der
Zeit, und auch im deutschen spielt es natürlich
seine Rolle, so in dem schon genannten Zingg-
Porträt von Graff. Gerade der mehrfach genannte
Schick, der vier Jahre lang in Paris französische
Kunst auf sich hatte wirken lassen, bringt in seinem
wundervollen Bildnis der jungen Karoline
v. Humboldt die Dargestellte beim Lautenspiel;
indem späterenDoppelporträt der jüngeren Schwestern
nur noch das innige Beisammensein, ohne
jede äußere Handlung, ohne jede Kopfw^endung
oder sonstiges Interessantmachen. Das ist kein individuell
bedingter Zufall, sondern entspricht der

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