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WILHELM FEHRLE
Der Expressionismus scheint wesentlich eine
Angelegenheit der Malerei zu sein. Die
Plastik hat sich seinem Liebeswerben gegenüber
immer sehr spröde verhalten. Gerade die bedeutendsten
Plastiker unserer Zeit (zu denen ich
auch Wilhelm Fehrle rechne) sind keine Expressionisten
, und gerade die bedeutendsten Erscheinungen
unter unseren Malern sind Expressionisten
. Woher kommt das? Nun, wenn das
Urerlebnis der Plastik die naive Freude am
natürlichen Gewächs des menschlichen Körpers
ist, die unerschöpflich tiefe Lust des Künstlers,
den Formen des Körpers in der Phantasie nach-
zutasten, aus Spannungen und Lösungen, Wölbungen
und Höhlungen den Körper organisch
zu erleben und aus den Gleichgewichtsverhältnissen
den Strom der Lebenskräfte zu erfühlen,
die den Körper tragen und bewegen, wenn dies,
sage ich, das Urerlebnis der Plastik ist, und wenn
der Expressionismus anderseits Deformierung,
Entstellung, Umstellung der Naturform ist unter
dem Druck mystischer, metaphysischer, naturferner
Erlebnisse: so kann es streng genommen
gar keine expressionistische Plastik geben, so ist
der Begriff „expressionistische Plastik" ein
Widerspruch in sich. Aber die Gotik, der
Barock? Gewiß: hier ist etwas, das man expressionistische
Plastik nennen kann. Aber ist es
Plastik im strengen Sinne? Die Gotik negiert
den Körper, stellt sein Leben ab, verhüllt ihn
durch Gewänder, unterwirft ihn einem ornamentalen
Gesetz und behandelt ihn im übrigen
als ein gleichgültiges Anhängsel an den Kopf,
der der Träger des künstlerischen Ausdrucks
wird. Und der Barock schiebt die Plastik auf
ein anderes Sinnengebiet hinüber: alle barocke
Plastik ist malerisch, ist optisch bestimmt, nicht
taktil, wendet sich ans Auge, nicht an das Tast-
und Gewichtsgefühl. Man sieht: Expressionismus
in der Plastik ist nur möglich, wenn man
das Urerlebnis der Plastik vergißt und nur insoweit
, als man es vergißt. Kann aber eine Zeit,
die so lebensdurstig, so sinnlich, so stark erotisch
bestimmt ist, wie die unsere, im Ernst von jenem
Urerlebnis der Plastik sich abwenden? Sind in
unserer Zeit Kräfte lebendig, die diese Abwendung
erzwingen könnten, so wie in der Gotik
und im Barock? Sicher nicht! Und so ist denn
unsere Plastik, nachdem sie es mit dem Expressionismus
versucht hat, aber dabei an die Grenzen
der Plastik stieß (Lehmbruck: gotisch-architektonische
Richtung; Rodin: barock-malerische
Richtung1), zu sich selbst zurückgekehrt,
zu der einfachen, alten und ewig neuen Problemstellung
der Plastik: den menschlichen
Körper darzustellen in der ganzen Fülle seiner
sinnlichen Existenz, durchwärmt und durch-
seelt von den elementaren Lebenskräften. Der
erste, der diesen Weg ging und weithin als Vorbild
gewirkt hat, ist der Franzose Maillol. Ihm
folgten in Deutschland (um die Bekanntesten
zu nennen) Haller, Fiori, Albiker. Maillol und
Haller waren denn auch die Sterne, die Wilhelm
Fehrle aus dem Berliner Neu-Barock heraus auf
den rechten Weg führten.
Vielleicht ist in dieser Gruppe Fehrle der noch
am wenigsten fest umrissene Typus. Es hängt
das mit seiner ganzen Veranlagung zusammen.
Vielseitig begabt (er ist auch Maler und Zeichner
) durch seine technische Gewandtheit und
seine feine, spürende Sinnlichkeit zur Arbeit in
den verschiedensten Materialien verlockt, keine
in sich gefangene, introvertierte Natur, sondern
ein frisch zugreifendes, leicht entflammtes
Temperament, undogmatisch und allen Eindrücken
offenstehend und überdies aus Schwaben
stammend, wo man bekanntlich erst mit
4o Jahren gescheit wird (er ist jetzt eben 42):
so hat er es schwerer als andere, ganz rund und
fertig zu werden. Mannigfache Einflüsse gehen
durch sein Werk hindurch und hinterlassen ihre
Spuren. Aber mehr und mehr verarbeitet er
alles Fremde, verwandelt es in eigenes Blut und
schafft deutlicher und deutlicher seine Eigenart
heraus. Versuchen wir es, sie zu bestimmen!
Da ist vor allem ein ungewöhnlich starkes und
ursprüngliches Gefühl für das Wesen der Plastik
. Das Urerlebnis der Plastik fühlt man bei
wenigen Künstlern so stark und überzeugend
heraus. Daher eignet allen Werken Fehries etwas
Glücklich-Unproblematisches, eine schlichte
Unbefangenheit, die sofort stark zum Beschauer
spricht. Dazu kommt die schöne, echt schwä-
]) Den konstruktiven Expressionismus (Archipenko z. B.) empfinde
ich, soweit er Plastik ist, als pervers, im übrigen als
eine intellektuelle Spielerei.
Die Kunst für Alle. XXXXI. 12. — September 1926
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