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OLAF GULBRANSSON. STUDIENKOPF
Akademieausstellung, Berlin
dem Mittelalter begann der Kompromiß mit
dem praktischen Sehen, er mußte zur Analyse
führen, und so sehen wir die ganze Entwicklung
bis heute sich in dieser Richtung bewegen, die
im Impressionismus den Gipfel erklomm und
das künstlerische Sehen zu einer nie erreichten
Höhe führte. Das Schauen ging in der Kunst
wie in der Wissenschaft dabei verloren, oder
blieb nur versteckt in Einzelnem und Einzelnen.
Ihm strebt der Expressionismus unserer Tage
nach, dort, wo er sich rein von Zwecken niederer
Art hält.
Setzen wir voraus, daß die Erkenntnis wirklich
lebendig ist, daß alles künstlerische Sehen sich
schließlich in immer größere Mannigfaltigkeit
verlieren muß, so ist damit aber noch nicht gesagt
, daß die anderen Wege auch bereits gefunden
sind, wenn der neuzeitliche Expressionist
sich automatisch der Formen sprache anderer
Völker und Zeiten bedient und ihre Formenprinzipien
ergreift, die deren künstlerisches
Schauen Gestalt werden ließ.
Der „Primitive", der nicht vom Wissen belastet
, sondern schauend die Einheit mit dem All
in seinem Busen fühlte, er verfügte über die
Fähigkeit eines gleichsam vorrationalen Formerfassens
in dem gleichen Maße, wie die vorwissenschaftliche
Weltanschauung, z. B. eines
Plato, Wahrheiten erschauen konnte, die nicht
unwahr geworden sind, weil wir uns durch die
Wissenschaft ihr Bild in tausend Teile zerlegen
ließen. Diese Unmittelbarkeit der Anschauung
ist uns verloren, seitdem wir Menschen mit Bewußtsein
und Verstand das versuchen wollten,
was gläubiges Schauen aus sich heraus schuf. In
der Kunstgeschichte wird ein solches Beginnen
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