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WILHELM SCHMID. LANDSCHAFT BEI PARIS
SEHEN, SCHAUEN UND ANSCHAUUNG
Des Menschen leibliches Auge ist von Natur
aus so mangelhaft, daß es, wie durch wissenschaftliche
Untersuchungen einwandfrei festgestellt
wurde, den Unterschied der Raumtiefen
und Weiten, somit also die Entfernungen und
die talsächliche Verschiedenheit der Größenwirkungen
der Objekte, beziehungsweise deren
wirkliche Größenunterschiede, aus eigener Fähigkeit
nicht zu erkennen vermag. Was nah,
was fern, was groß, was klein ist, und wie nah
oder fern, wie groß oder klein, das lernt das
Menschenauge erst nach und nach sehen. Zuerst
durch die Erfahrung, die der Tastsinn vermittelt
, später durch die körperliche Bewegung
im Raum. Noch später lernt das Auge Farben
sehen und unterscheiden. Aber auch dann noch
gibt es zwischen Sehen und Sehen unzählige
Abstufungen, Steigerungen je nach der physischen
Befähigung des Auges und ihrer Ausbildung
.
Beträchtlicher und bedeutender sind sodann
die Unterschiede zwischen Sehen und Schauen.
Am bedeutendsten sind die Unterschiede zwischen
Sehen und Anschauung, dem ins Geistige
reichenden Sehen. Auch diesem gesteigerten
Sehen eignet nicht bloß eine Form, ein Grad,
eine Stärke, sondern viele Formen, Grade und
Stärken. Denn das durchgeistigte Auge des
Menschen gelangt gleichwohl nicht sofort zu
einer Höhe, Tiefe und Weite gleichmäßig um-
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