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II. Seelenglaube und Seelenkult.
wahrzunehmen ist. Ersteres tritt besonders krass in die
Erscheinung bei der Annahme zweier Seelen des einen
Menschen, der einen am Grabe, der anderen im Hades; *)
der einen gegenüber bleibt eine kultische Form der Handlung
gewahrt, die andere wird davon nicht berührt. Diese
naive Annahme zweier Seelen ist aus zwei verschiedenen
Vorstellungsgruppen hervorgegangen, von denen die zweite
sich nicht so mächtig erwiesen hat, dass sie die erste völlig
überwunden und abgelöst hätte. Ebenso sind in Griechenland
zur Zeit des Vorhandenseins einer ausgeprägten Hadesvorstellung
auch in Bezug auf die im Hades weilenden
Seelen Sitten üblich, die der Hadesvorstellung direkt zu
widersprechen scheinen und sich somit als aus einer Zeit
stammend zu erkennen geben, welcher die Hadesvorstellung
noch fremd und in der ein mit dieser unverträglicher Seelenkult
üblich war.2)
Die Frage, welche somit die Untersuchung in jedem
Sonderfall aufs neue zu lösen hat, ist demnach diese: w e i s e n
die uns in historischer Zeit in bestimmten
Formenvor liegen den Sitten undBräucheSpuren
dessen auf, dass ein Seelenkult auf ihre Ent-
wickelung Ein flu ss gewonnen hat, oder erklärt
sich ihre Form direkt aus einer vielleicht vor
Aufkommen eines Seelenkultes ursprünglichen
Form? Dabei ist natürlich zu unterscheiden, ob die
erreichten Formen der Sitte das Einflussgewonnenhaben
eines Seelenkults direkt ausschliefen oder nicht. In ersterem
Falle wird dann der Schluss berechtigt und notwendig
erscheinen, dass das betreffende Volk, das diese Sitte übt,
zu keiner Zeit einem Seelenkult ergeben gewesen ist.
3) Tylor, Auf. der Kultur I, 427. Robde, Psycbe 235 u. n.
2) Vgl. die Nekyia der Odyssee u. dazu Robde, Psycbe 45ff., 533.
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