http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/frey1898/0157
Der Opfercharakter der Selbstverstümmelungen. 145
IX. Der Opfercharakter der Selbstverstümmelungen.
Diese Handlungen werden heute gemeiniglich als Opfer
erklärt. Dass sie das vielfach sind, darüber kann kein
Zweifel obwalten. Fraglich erscheint mir aber, ob das der
ursprüngliche Sinn dieser Bräuche ist. Die Haarschur
insbesondere findet sich allerdings vielfach bei Völkern,
welche den Seelenkult haben, also Totenopfer darbringen.
Aber aus letzterem folgt nocht nicht, dass alle Trauerhandlungen
nichts anderes sind als Opferhandlungen. Es
kann sehr wohl eine ursprünglich anders gemeinte Handlung
in späterer Zeit, weil in engster Verbindung mit Totenopfern
stehend, auch diesen Sinn erhalten haben.
Diese Bräuche finden sich insbesondere viel erwähnt aus
dem griechisch-römischen Altertum. Hier wird also am leichtesten
ein Aufschluss über ihre Bedeutung zu erhalten sein.3)
Bei den altklassischen Völkern war die Haarschur vielfach in
einer dem altisraelitischen Brauch durchaus gleichen Weise
üblich, nämlich in Verbindung mit Zerreissen der Kleider, Bestreuen
des Hauptes mit Asche oder Staub und auch mit Selbstverwundungen
, — und auch hier ist der doppelte Brauch
nachweisbar: Zerraufen der Haare und Abscheren derselben.
In Gemässheit dessen wird auch hier die Haarschur
bezw. die Selbstverstümmelung gemeiniglich als Ausdruck
des Affekts in der Trauer erklärt.2) Dem steht aber schon
x) Ich wähle absichtlich diese indogermanische Völkergruppe auch
noch aus dem Grunde, weil die Bräuche an sich erforscht werden sollen,
ohne Rücksicht auf Israel.
2) Z. B. Sittl, Die Geberden der Griechen und Römer. Leipzig
1890. 22 ff., 66 ff.
Frey, Tod, Seelenglaube u. Seelenkult. 10
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/frey1898/0157