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Verschwinden seines Werks. Eben weil bereits in nächster
Folgezeit sich dasselbe als unzureichend gerade gegenüber den
bedeutsamsten Erscheinungen der Häresie erwies, wandte man
sich von ihm ab und griff nach anderen Werken, die zwar
Ausführlicheres boten, aber in vielen Punkten unzuverlässiger
waren.
Zum Schlüsse sei uns noch die Bemerkung erlaubt, dassr
falls unsere Eesultate auf diesem immerhin wenig lichtvollen
Gebiete richtig sind, alle diejenigen Constructionen einer Geschichte
der Gnosis als dem wahren Thatbestande nicht entsprechend
zu verwerfen sind, die in dem marcionitischen System
als dem jüngsten eine Einlenkung, Umbiegimg etc. der Gnosis
• zum katholischen Christenthum zurück, statuiren. Wie schon
auf einen einheitlichen Ausgangspunkt für die Anfänge der
Gnosis verzichtet werden muss, so auch auf eine einheitliche
Gesammtentwicklung. Diejenige Auffassung aber, welche am
Ende des grossen, geschichtlichen Verlaufs des gnostischen
Entwicklungsprocesses ein Einlenken in die Bahnen des katholischen
Christenthums zurück erblicken zu können glaubt, ist
unhaltbar und widerspricht der Geschichte. Höhepunkt und
Endpunkt der gnostischen Bewegung fällt vielmehr zusammen.
denn mit Ersteigung des Gipfels einer absoluten Speculation in
den valentinianischen Svstemen hat die Gnosis den Nerv ihres
Lebens aufgegeben, den Kampf gegen das katholische Christen-
thum.
Es sei uns vergönnt, nach den ermüdenden Detailuntersuchungen
mit ein paar Strichen die Schlussentwicklung des
Gnosticisinus zu zeichnen, wie sie uns vorschwebt, indem wir
gegenüber der antinomistischen, antijudaistischen Epoche einerseits
und der ihr parallel laufenden marcionitischen andrerseits
in der valentinianischen Gnosis, wie sie sich vornehmlich zwischen
150 und 170 entwickelt hat, das letzte Stadium lebendiger Wirksamkeit
der gnostischen Ideen erblicken.
In dem Moment, wo — wie dies in der valentinianischen
Gnosis der Fall ist — die Speculation Alles begriffen zu
haben wähnt, erreicht sie den Höhepunkt ihrer Bedeutung: das
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