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nennenden Sinne die Pistis wieder in das Centrum rücken,
ohne sich doch von den Formeln der Schule loslösen zu
können. —
Dass schon mit den ersten Decennien des III. Jahrhunderts
der Gnosticismus sich zu zersetzen beginnt und fortan kein Factor
ist, mit welchem die Kirchengeschichtsschreibung, will sie jene
Zeit begreifen, zu rechnen hat, das lehren uns vor Allem die
Ketzerbestreiter unter den rechtgläubigen Vätern selbst. Bereits
in dem Werke des Hippolyt überragt das geschichtliche Interesse
an der ganzen Bewegung bei Weitem das polemische. Während
Justin, Irenaeus und TertuUian bekämpfen und nur darstellen,
um zu bekämpfen, liegt es Hippolyt, weit mehr am Herzen,
eine sachlich beleuchtete, genetisch erklärte, vollständige Ketzerliste
zu geben und während die Bestreitungen der früheren
Väter vor Allem der Widerlegung irgend einer der gnostischen
Hauptrichtungen dienen, läuft Hippolyt's Werk in eine Bestreitung
des Noetus und Callistus aus! Ein deutlicher Beweis,
dass wenigstens im Abendland jene gnostischen Häresieen nicht
mehr beunruhigend die Kirche bedrohten. Aber noch bis tief
in die späteren Jahrhunderte hinein erhalten sie sich, freilich
kaum mehr im Stande auch nur das Interesse des Historikers
zu fesseln; denn der poetische Reiz, der ihre Blüthezeit umgab,
ist abgestreift und das bunte Leben, das sich in ihnen abspielte,
ist erstarrt. Ihre Fortexistenz erscheint fast als ein Anachronismus
und sie selbst gleichen den versteinerten, kalten Lavamassen
, die einst glühend und flüssig unter Blitz und Donner
dem brennenden Berge entströmt 'sind — trübe Denkmäler einer
gährenden und lebendig ringenden Zeit, wie sie die Geschichte
nicht ihres Gleichen hat.
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