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396 MARTIN (SAINT).
MARTIN (SAINT).
welche Systeme die Lehrbegriffe
des Verfassers durchgewandert
sind, welche
Rolle sie darin gespielt und
welche Modificätionen sie
erhalten haben, ehe sie bis
zu ihm gekommen sind,44
mit gelehrten Anmerkungen
, in welchen Br. Kreil
ihren Werth oder Unwerth
in Absicht auf unsre Er-
kenntnifs zeigte, wohin sie
führen, und ob das allgemeine
Princip der Wissenschaft
, das St,-Martin aufstellt
, uns in der Untersuchung
der Wahrheit ein besserer
Leitstern ist, als das
Princip derjenigen Beobachter
, die er bekämpfet."
Diese Zergliederung eröffnet
folgender Eingang. —
»Sokrates soll seinen Freunden
, als sie ihn um seine Meinung
über das sehr dunkel geschriebene
Buch des Herahlitus
fragten, geantwortet haben:
„„Da, wo ich das Buch verstehe
, finde ich es vortreilich;
ich glaube also, dafs es auch
vortreflicli ist, wo ich es nicht
verstehe, und wo Derjenige
den Wahrs agergeis t Apollo's
haben müfste, der es enträth-
seln wollte."** — Mit dem
berüchtigten Buche: „des Er-
reurs et de la Verite," befinde
ich mich in dem entgegengesetzten
Falle. Da, wo dessen
Verfasser seine Meinung nicht
absichtlich in den Schleier der
Allegorie verhüllet, finde ich
das Meiste auf falsche Voraussetzungen
und einseitige Beobachtungen
gebauet und in einem
Ciiarla tan tone gesagt, der
nur Den blenden kann, der
die Kräfte und den Gang des
menschlichen Verstandes nicht
kennt und die Gränzen und
die innere Beschaffenheit un-
sres Wissens nie durchforscht
hat."
„Nie hat ein Schriftsteller
alle, von Malebranche längst
aufgedeckten, Vortheile der Ein-
bildungkraft über schwächere
Köpfe so benutzt, — Einfälle,
Hypothesen, eigene und geerbte
, und metaphysischen Unsinn
so unverschämt für Tkat-
wahrheit hingeschrieben und
die Leser auf selbige mit einem
so empörenden Stolze hingewiesen
, als der Verfasser jenes
Buchs. Er entdecket wol in
den Lehrgebäuden der Menschen
Widersprüche : aber Wer
entdeckt sie nicht ? Auch folgt
daraus, dafs wir sehr oft irren
: aber der Verf. hat so wenig
das Problem aufgelöset, das
Wahre vom Irrigen abzusondern
, dafs er vielmehr bei jedem
Schritte Hypothesen unvermerkt
an Thatsachen gattet,
sie mit Helldunkel überkleidet
und damit nicht etwa eine Ver-
muthung, sondern unumstöfs-
liche, wichtige Wahrheit, und
zwar solche Wahrheit, zu sagen
glaubt, deren Nichtwissen
uns strafbar machenssoll."
„Der Trugschlufs, der die
meisten Menschen bei Durchle-
sung ähnlicher Schriften irreführt
, ist der: man glaubt, Derjenige
, der, alle Systeme einrei-
fsen oder doch wankend machen
kann, sey auch im Stande
, ein neues besseres aufzuführen
. Alles Bisherige hält
nicht Stich; es mufs also wol
das Neue das Wahre seyn.
Auf diese Weise zum Voraus
für den Scharf- und Tiefsinn
des Verfassers eingenommen,
giebt man sich weniger Mühe,
seine Schlüsse zu prüfen, be-
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