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560 MYSTTCTSMUS
MYSTICISMUS.
•Vereinigung daxbot; aber auch,
olme Piatonismus war sie bei
allen Völkern, die empfindend
dachten und denkend empfanden
, in jeder Religion, die be-
seligen wollte, am Ende das
Ziel der Betrachtung, Sinnliche
Volker selbst liaben zuweilen
auf die sonderbarste Weise
einen Mysticismus gesucht und
sich in ihm berauschet; vernünftelnde
Völker suchten ihn
auf ihre Weise. Der Grund
dazu liegt in der Natur des
Menschen. Er will Ruhe und
Thätigkeit, Genufs und .Beschauung
, auf die kostenfreie-
ste, dauerhafteste, zugleich
auch auf die untrüglichste, —
auf eine gleichsam unendliche
Weise. So gern möchte er mit
Ideen leben und selbst Idee
seyn. Die träge Zeit, den leeren
Kaum, die lahme Bewegung
um sich her möcht1 er
gern überspringen 1und vernichten
, •— dagegen Alles an
sich ziehen, sich Allem zueignen
, und zuletzt in einem
Ideal zerflielsen, das jeden Genufs
in sich fnfst, wohin seine
Vorstellung reichet.'*
„Viele Umstände der damaligen
und folgenden Zeit kamen
zusammen, diesen Mysti-
cismus zu nähren, und ihn
dem Christenthume, zu welchem
er ursprünglich nicht
gehörte, «einzuverleiben. Ein
specuiirender Geist, dem es
an Materie zur Speculation
fehlet, ein liebendes Herz ohne
Gegenstand der Liebe, ge-
räth immer auf den Mysticismus
. Einsame Gegenden, Klosterzellen
, ein Krankenlager,
Gefängnifs und Kerker, — endlich
auch auffallende Begebenheiten
, die Bekanntschaft mit
sonderbar-liebreichen und bedeutenden
Personen, Worte,
die man von ihnen1 gehört,
Zeichen der Zeit, dia man erlebt
hat, u. s.w., alle diese
Dinge brüten den Mysticis?nust
diefs LiebÜngskind unsrer geistigen
^Wirksamkeit und Trägheit
, in einer groben oder seidenen
Umhüllung aus und geben
ihm zuletzt die bunten
Flügel des himmlischen Amors.
Man liebet und weifs nicht:
Wert? man begehret und weifs
nicht: Was? — etwas Unendliches
, das Höchste', Schönste,
Besteh
„So unentbehrlich dem Menschen
diese Tendenz nach dem
Vortrefflichsten und Vollkommensten
ist, ohne welche er,
wie eine Raupe, umherkröche
und vermoderte: so leer bleibt
dennoch die Seele, wenn sie,
blofs auf Flügeln der Imagination
im Taumel der Begeisterung
fortgetragen, in ungeheuren
Wüsten umherschweift.
Das Unendliche giebt kein JBildj
denn, es hat keinen Umrifs.
Selten haben diesen auch die
Poesieen, die das Unermefsli-
che singen; sie schwingen sich
entweder in ein Empyreum*'
(den reinsten obersten Himmel)
,,des Urlichts, voll gestaltloser
Seraphim, auf, oder, wenn
sie von da in die Tiefen des
menschlichen Herzens zurückkehren
, kann die erhöhete Speculation
dennoch nur aus ihm
jene Urbilder himmlischer
Schönheit holen, die sie über
den Wolken begrüfset und in
ein Paradies der Liebe und Seligkeit
hinauf zaubert. Die
Hymnen der mittlem Zeit sind
voll von diesen goldnen Bildern
, in die ünermefsliche Bläue
des Himmels gemalet.**
4) In dem vom kÖnigl.
bayerischen Consistoralrathe
u n d P r o f. D r. Berth oldt• > zu
Erlangen, herausgegebenen
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