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MYSTICISMUS
MYSTICISMUS. 561
„krit. Journale der neuesten
theolog.Literatur'^ E.
15, St. 1, (Sulzbach, 1723,
in '8.) steht S. 30 — 34 die
Recension einer neuen lateinischen
Taschenausgabe
von der allbekannten Schrift
des Thomas a Kempis .„de
imitatione Christi" (von der
Nachfolge Christi), worin
es unter andern heifst:
„Der Geist, der in dem Buche
wehet, spricht alle edle
und fromme Christen von jeglicher
Confession an. Es liegt
nämlich darin der edlere Mysticismus
, welchen wir den
rationalen nennen möchten,
und welchen wir dem sinnlichen
entgegensetzen, der in
unsern Tagen wieder in vielen
Köpfen sein Wesen, oder viel-,
mehr sein Unwesen, treibt.
Dieser, sonst auch der gröbere
Mysticismus genannt, gehet
blofs von dem sinnlichen Gefühl
aus ; das ist seine einzige
Quelle. Daher strebt er auf
Ertödtüng der freien Geistes-
thätigkeit und auf Gefangen-
nehmung der Vernunft, hat
einen unauslöschlichen Hafs
fegen alle fortschreitende Er-
enntnifs in Religionsachen
t und verschreiet Diejenigen,
welche nach diesem Ziele hin-
trachten, sucht Alles in die
Dunkelheit zu ziehen, ist ebendeshalb
vom Indiffexentismus
befangen und spricht der Religio
nm enger ei das Wort, — ist
sogar naclisicntig gegen Verwechselung
der Confession, —
ist aber dennoch sehr unduldsam
, nämlich gegen*" Diejenigen
, weiche nicht ihrer Meinung
sind und nicht ihre Bestrebungen
theilen, sondern es
für eine schlimme Eigenschaft
halten, wenn man in der Religion
weder warmnoch kalt,
ist."
„Diese unedle.Axt des Mysticismus
hat von jeher viel
Schaden gebracht. — Aber,
wir verwerfen nicht allen My-
sticistnus. Da die Religion
nicht blofs Sache des Verstandes
und der Vernunft ist, sondern
auch das Merz und das
Gefühl in ihr Interesse zieht;
so kann ohne Mysticismus gar
keine subjactive Religion ge-^
dacht werden; es darf indefs
das Gefühl nicht vorherrschen;
sondern es mufs untergeordnet
seyn der Vernunft, Die Vernunft
ist die Quelle; und diese
Quelle nieist ab in das Gefühl.
Die subjective Religion ist also
eine gemeinschafiliehe Wirkung
des Geistes und Herzens,
doch aber so, dafs das Herz
die Wirkung nur aufnimmt
und weiter verbreitet, die ursprünglich
allein vom Geiste,
das heifst vom Verstände und
der Vernunft, ausgehet. Ist
nun Mysticismus von der Religion
unzertrennlich, so mufs
er rational seyn; die Vernunft
mufs über das Herz und seine
Gefühle -gebieten. Diese edlere
Art des Mysticismus ist der
reinen -christlichen Religion ei-
genthümlich; ja, wir müssen
sagen, dafs ihr Wesen darin
bestehe.'*
b) Vernehmen wir noch
die Stimme des ehrwürdigen
Kanzlers D. Niemeyer\
in Halle! —
,,Wir haben aus allen Zeiten
Beispiele, wohin sich Menschen
, selbst von hoher Geistesbildung
und einem vortrefflichen
Character, verirren
können , sobald sie die Glänzen
des menschliehen Wissens
überfliegen und, sich nicht be«
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