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an solchem Haken ist schon manch' einer hängen
geblieben.
Da alles, was man an Geschriebenem und Gedrucktem
bei sich führt, vor dem Verlassen des
Landes der Wetscheka zur Kontrolle vorgelegt
weiden muß, und da man mit diesem Material
dann drei Grenzen zu passieren hat, ehe man
wieder daheim ist, stellen die Notizbücher, die
man nei sich trägt, natürlich hohle Attrappen vor.
Das Wesentliche, ob es nun günstig oder ungünstig
für eines der drei Länder lautet, verbirgt
man ängstlich im Gedächtnis, um es vor
Mißverständnis, Unverstand, Spitzeln und Grenzbehörden
zu schützen. Dieser Zustand der geistigen
Notwehr ist es, der allmählich jenen seelischen
Druck, jene spezifische Moskauer Psychose
erzeugt, die schwerer zu ertragen ist als
alle anderen Nöte, die man in Rußland am eigenen
Leibe erfährt. Der bare Selbsterhaltungstrieb, die
Revolte des guten Gewissens fälscht und entstellt
dir das Bild der Wahrheit, das zu enthüllen
du unter das große, rätselhafte Volk des Ostens
gekommen bist.
Immer wieder erklärte man mir: Was wir hier
brauchen, sind Leute mitJPhantasie; keine kleinen
klebrigen Matter-of-fact-Gehirne, deren Horizont
auf den Dunstkreis um ihre Nase beschränkt ist.
Ich machte den einen und den anderen, der so
zu mir sprach, darauf aufmerksam, daß die Führer
der Bolschewiki es ja heftig leugneten, ihr
Ziel sei die Utopie — und daß dieser oft wiederholte
Wunsch nach phantasiebegabten Fremdlingen
doch die Suggestion einschließe: der Betrachter
möge durch das Gegenwärtige, das Gegebene,
durch das Werdende hindurch des leuchtenden
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