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vor Unterernährung und Müdigkeit kaum mehr
zu arbeiten vermochten, durfte man nichts dagegen
haben, daß sich ein Teil des Betriebspersonals
halbe Tage lang unentschuldigt auf den Feldern
umhertrieb, um Rüben, Kartoffeln und andere
Erdfrüchte anzubauen, zu pflegen und einzuheimsen
. Gegen diese notgedrungene Sabotage
der Produktion half nur das mechanisch erhöhte
Prämiensystem. Doch war die Stimmung unter
der Arbeiterschaft eine vorzügliche. Sie wußten
ja, daß etwas sich geändert hatte, daß sie für
sich arbeiteten, und das half ihnen über manche
Entbehrung, Müdigkeit und Kummer hinweg.
Eine Schar hübscher, gut gekleideter und fröhlicher
Kinder stand um unser Automobil, als wir
kamen und gingen. Im Klubzimmer, in den Speisesälen
, in dem Kinderklub der Arbeiterheime hingen
Bilder und Fahnen mit Wahlsprüchen an den
Wänden; ein Theater sah man, dessen Dekorationen
von den Arbeitern selbst gemalt worden
waren. Das Programm der letzten Aufführungen
zeigte Stücke von Tschechow und Tolstoi. In
einem kleinen Atelier standen naive Ton- und
Holzskulpturen, die begabte Arbeiter in ihren
Mußestunden ausgeführt hatten. Ein Sanatorium
mit vorzüglich gehaltenen Räumen für Operationen
, Wöchnerinnenstuben und Apotheke wies erstaunlich
gut funktionierende Einrichtungen auf,
der Oberarzt verfügte sogar über chirurgische
Geräte; wie uns im Vertrauen mitgeteilt wurde,
waren diese durch den Schleichhandel erstanden;
auch war, was in Rußland noch seltener ist,
Chloroform vorhanden.
Im Betriebsrat saßen nur Arbeiter; kein Beamter
. Der Vorsitzende war Kommunist. Doch
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