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gehen, von dem ich später ausführlich sprechen
werde, wo aber keine Stöcke, sondern nur Besen
zu haben waren. Ein Besen kostete 12000 Rubel.
Ich hätte den Besenstiel entzwei sägen müssen,
und er wäre nur eine notdürftige Stütze gewesen.
Infolgedessen brach ich von meinem Regenschirm
das untere Holz ab und ging so mit einer etwas
breiteren Basis wochenlang in Rußland spazieren.
Kleine Fehler der Organisation, aber man spürt
sie am eigenen Leibe.
Was soll nun aus dieser maßlosen Zentrali
sation, aus diesem weiter und immer weiter überwuchernden
Beamtenkörper, diesem parasitären
wilden Fleisch an dem gesunden Leib eines Arbeitervolkes
werden?
Oft fuhr ich nachts aus einem Alptraum auf.
Ich sah die Menschheit der Zukunft in zwei Lager
gespalten. Die eine Hälfte saß in den Ämtern,
die andere wartete in Vorzimmern. Die ganze
Entwicklung der Politik kam mir so vor: die in
den Vorzimmern strebten danach, selbst die Macht
an sich zu reißen, d. h. drin in den Amtszimmern
zu sitzen, damit jene, die jetzt im Amt saßen, sich
draußen in den Vorzimmern in Reihen stellen
müßten. Am ersten Tage meiner Anwesenheit
auf ehemals russischem Boden, inReval, während
ich auf das Visum meines Passes im Auswärtigen
Amt der Repubik Eesti wartete, habe ich
mir ein Andenken an diese drei Stunden mitgenommen
. Das Außenministerium der Republik
Estland ist in einem wunderschönen ehemaligen
Herrenhaus, einem großen Haus aus dunkelroten
Holzstämmen mit schwarzen Ornamenten außen.,
weißen Räumen mit enormen Kachelöfen und
Empiremöbeln innen untergebracht. ImEmpfangs-
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