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Sängerinnen hervorlocken. Zum Paroxysmus aber
steigert sich die Freude nach den Balletten.
Ich kann es wohl sagen, daß ich in meinem
ganzen Leben nicht so viel habe Ballett tanzen
sehen wie im ersten Monat meines Aufenthaltes
in Moskau. Und zwar waren dies gar nicht die
Ballette, die wir in Europa als russische Ballette
bestaunt haben, sondern die guten alten „Divertissements
", in denen 50 Damen in Tüllröckchen,
mit rosafarbigen Trikotfüßchen und das sonderbare
Wesen: Ballettänzer in seidenen Höschen
mit wirbelnden Beinen Sprünge vor der Rampe
beschreiben. Auch hier kannst du die Namen der
meistbewunderten Künstler aus tausend enthusiastischer
Kehlen Geschrei erfahren, und was
mehr ist — nein, weiß Gott, ich muß den Hergang
erzählen: Es war nach dem „Schwanen-
teich" Glinkas, da erschien auf der Bühne plötzlich
ein in der alten Zarenlivree steckender
Theaterdiener und schleppte aus den Kulissen
einen riesigen Korb mit Orchideen und Chrysanthemen
heraus. Oben in der linken Ecke war
mit einem Seidenmäschchen ein Briefchen an den
Henkel befestigt. Aus der entgegengesetzten Ku^
lisse hüpfte Katharina Geltzer zum Korb herbei
und bedankte sich mit Kußhändchen. Wir in
unserer Loge, ich saß mit den Türken, Österreichern
und Amerikanern da, vergaßen den
Mund offen vor dieser voroktoberlichen Ehrenbezeigung
, oder wie man es nennen will!
Der Metallarbeiterverband Petersburgs hat sich
in seiner letzten Jahresversammlung darüber beschwert
, daß die Regierung der Sowjets mehr
Geld für Ballette ausgebe als für den Verband
der Metallarbeiter Rußlands. Und ich hörte Künst
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