http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/holitscher1921/0127
Ich war einigemal in Stanislawskis „Künstlerischem
Theater" an der Kamergerski und in
seinem „Ersten Studio" auf dem Platze an der
Twerskaja, wo er seine jungen Künstler spielen
läßt. An einem Nachmittag setzte ich mich dann
mit ihm selber, dem scharmanten Menschen und
großen Künstler, diesem wahrhaftigen Erneuerer
des modernen Theaters zusammen und ließ mich
über die Nöte und Hoffnungen des russischen
Theaters belehren.
Stanislawski (der politisch als wenig zuverlässig
gilt) hat den Mut verloren. Er erklärte
mir traurig: das neue proletarische Publikum
komme ebensowenig in sein Theater, wie die
proletarischen Dichter brauchbare Stücke einreichten
. Beides gebe es also nicht. Die Kunst
wate wie das private und öffentliche Leben durch
einen Sumpf, durch die Auflösung, und es sei
nicht abzusehen, wann es zu einer Konsolidierung
kommen könnte. Daß die Konzentrationsmöglichkeit
für die Künstler der nächsten Generationen
verschwunden sei, und daß es nun nur
gälte, zu vegetieren und am Leben zu bleiben.
Ich konnte Stanislawski den Vorwurf nicht ersparen
, daß er sein Publikum nicht erziehe, es
nicht in sein Theater ziehe dadurch, daß er ihm
ernste und wichtige Stücke biete, wie zum Beispiel
Strindbergs „Damaskus"-Drama oder Tol-
stojs Alterswerke, die wir jetzt in Berlin hätten.
Erschütternd brach da die Bitterkeit aus Stanislawski
hervor: ich muß ja meinen Schauspielern
um den Hals fallen, sagte er, wenn sie überhaupt
zu den Vorstellungen kommen; zehn Werst zu
Fuß ins Theater und durch die Nacht zurück,
hungrig und frierend und erschöpft. — Byrons
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