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einen Augenblick gestört worden wäre. Hier sah
ich einen Malvolio, der, wenn er am Leben bleibt,
der erste Schauspieler Rußlands werden könnte,
ein junger Chargenspieler Tschechow, ein himmlisch
erschülterndes Geschöpf voll tiefster menschlicher
Tragikomik, in einer Maske, die allerdings
die Natur ihm für diese eine Rolle verliehen zu
haben schien.
Es gibt in all den größeren Städten Rußlands
Theater, die ausschließlich die politische Satire
pflegen. In Petersburg sah ich solch eine politische
Satire in einem Kellertheater, das den
Namen „Der räudige Hund" führt. Auch hier
spielte sich die Hälfte des Stückes im Zuschauerraum
ab. Auf der Bühne sah man eine Art
Börsenkollegium, das mit Menschenfleisch handelte
. Der Fabrikherr, der General mit phosphoreszierendem
Totenkopf erschienen nacheinander
und bestellten Arbeiterheere und Kanonenfutter
. Die Häscher der Börsenkönige stürzten
sogleich ins Publikum hinunter und holten einen
Prachtkerl, einen jungen Proletarier herauf, der
als Muster für die zu liefernden Hekatomben
der Arbeit und der Armee seine Muskeln spielen
lassen, seinen Mund aufmachen und die Zähne
herzeigen mußte, vorn und hinten betastet, gewogen
und dann nach vielem Feilschen zu einem
vereinbarten Massenlieferungspreis den Bestellern
zugeschlagen wurde. Ein revolutionärer Dichter
stürzte indigniert auf die Bühne, die Häscher
faßten ihn, er beging Selbstmord und wurde
in den Zuschauerraum zurückgefeuert, während
ein anderer, eine Kreatur in Regenbogenkleidung,
der „K.W.D.", d. h. Mantel - nach - dem - Wind-
Dreher, siegreich den Platz behauptete und Vor
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