http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/holitscher1921/0131
der sich auch Alexandra Kollontai und ihr Sohn
befanden, gegen zehn Uhr in das Gebäude des
ehemaligen Staatsarchivs begeben und sahen aus
einem Fenster das Drama vor unseren Augen
abrollen. Ich will über dieses Erlebnis ausführlich
berichten, denn was ich da zu sehen bekam,
war nicht allein etwas in seiner Ungeheuerlichkeit
, seiner wilden Monstrosität Unvergeßliches,
zugleich Schauder und Bewunderung Erregendes
, sondern auch darum, weil in dieser Art
des Theaterspielens sich zweifellos etwas Zukünftiges
ankündigt, das alle unsere Vorstellungen
vom Theater umwälzen muß. An diesem Revolutionsabend
wurde ich auch der Ursache inne,
warum bisher alle Versuche des Massentheaters
scheitern und, nachdem sie Schaden die Fülle
angestiftet haben und es jetzt noch tun, verschwinden
müssen.
Im Mittelpunkt des Lebens der Stadt stand im
Mittelalter die Religion. Die Schauspiele, die auf
den Brettergefügen der Marktplätze Engel, Dämonen
, Bischöfe, Kaiser, Bürgersleute, Huren und
Landsknechte in Aktionen mit- und gegeneinander
zeigten, waren religiöse Mysterien. Heute steht
im Mittelpunkte des Lebens der Stadt, des Erlebens
des Volkes die Politik. Das Schauspiel am
Revolutionsfeiertag darf mit Fug ein politisches
Mysterium genannt werden. (Engel und Dämonen
waren hier das Volk.)
Der nach dem ermordeten Volkskommissar
Uritzky benannte Platz vor dem Winterpalais ist
der ehemals Dwortzowy - Ploschtschad, d. h.
Schloßplatz benannte, mit der von Nikolaus I.
zum Andenken an Alexanderl. errichteten, von
einem ein Kreuz schwingenden Engel gekrönten
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