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ihrem entschwindenden, vielleicht nicht mehr vorhandenen
Publikum erhalten bleibe.
Da ist „die gesprochene Zeitung"; sie fügt sich
aus einer Reihe von Rezitationen zusammen,
in der Art, wie die typographierte aus einer
Reihe von gedruckten Aufsätzen, Versen, Dramenfragmenten
und vielleicht noch einem Essay über
eine hervorragendere oder interessante Dichterpersönlichkeit
zusammengesetzt ist. Zum Schluß
schießt dann ein junger Kritiker seine Pfeile
gegen die eben gehörten Lyriker, Dramatiker
und Essayisten ab; auch wird angekündigt,
was sich in der nächsten Zeit ereignen wird:
eine Art Büchereinlauf wird vorgelesen.
Zuweilen wird ein „Literarny Sud", d. h. literarisches
Volksgericht veranstaltet. Der literarische
Gerichtshof ist ganz dem Volksgericht nachgebildet
, hat einen Vorsitzenden, Schöffen, Staatsanwalt
, Verteidiger, Publikum und natürlich
einen Angeklagten sowie Zeugen. In Moskau
wurde solch ein literarisches Gericht über das
Oberhaupt der Imaginisten abgehalten, das mit
dem Freispruch des Angeklagten endete. Es geschah
ihm nichts. Im Parkett — der riesige ungeheizte
Saal des Konservatoriums war Schauplatz
— saßen die zehn hysterischen Frauenspersonen
und klatschten Beifall. Es war eine
kleine Familienangelegenheit; das Volk kümmert
sich um solche Affenstreiche natürlich nicht im
geringsten, und das alte bürgerliche Publikum,
das über Zeit und Muße verfügende, aus Unbeschäftigtheit
hinter der Ästhetik und noch mehr
hinter den Ästheten herjagende, existiert nicht
mehr: es leidet, arbeitet oder hält sich verborgen;
es muß auf offenen oder ebenso mühseligen.
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