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Moskau liebe ich inniger als Petersburg. Zwar
in Petersburg laufen noch die Trambahnen,
klingeln noch die Telephone; das Pflaster ist ebener
und menschlich; auch kann ich, wenn ich im
Smolny bin, Tür an Tür alles beisammen finden,
wonach ich mir in Moskau, in den Volkskommissariaten
an allen vier Ecken der Stadt die Füße
wund und die Lunge aus dem Halse rennen muß.
Aber diese Märchenstadt Moskau, dieses unerhörte
orientalische Märchendorf mit seinen vierzigmal
vierzig Kirchen ist ein chimärischer Zauber, in
dessen Bann man tief und schmerzhaft noch monatelang
fiebern möchte. Habt ihr schon einmal Kirchen
gesehen, die mitten auf der Straße stehen und
nicht höher sind als ein Stockwerk hoch vom Fundament
bis zur Turmspitze? Aber es ist nicht
eine Spitze, sondern es sind ihrer fünf. Wie Pilze
sitzen die Türme auf den bunten Dächern. Da
seht ihr Helme mit goldenen Sternen auf himmelblauem
Grund und rote mit Stacheln wie der
Rücken des Basilisk und schneeweiße Pilzköpfe
mit kleinen silbernen Ornamenten und schwergolden
gleißende, deren Licht in der prallen
Wintersonne die Augen aussticht — und auf all'
diesen Pilzen, Hauben, Helmen stehen nach Osten
gerichtet große Kreuze, die mittels zarter goldener
Filigranketten an die Türme angekettet sind.
Die Kirchen, die Klöster, die Dome Moskaus!
Die vierzigmal vierzig Kirchen! Und vor allem
dieses nie erhörte, nie erträumte, in Scharlachfiebern
ausgebrütete, zusammenphantasierte Winkelwerk
, die göttliche Berserkerei dieser besessen
ineinandergewühlten, durcheinandergekneteten,
mit einem Krach auf den Platz vor dem Kreml1
hingeknallten Basiliuskathedrale! Man fällt auf
11 Holits eh er, Drei Monate in Sowjet-Bußland 1 ßl
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