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mobilen durchzuckt und widerhallend ' vom
Lärm und Kommandorufen der marschbereiten
Roten Armee. Zwischen den Türmen, die nach
dem Roten, d. h. dem Schönen Platz gegenüber
den ebenfalls erschlagenen Handelsreihen weisen,
trägt die Kremlmauer Spuren von Gewehr- und
Artilleriefeuer. Das Senatsgebäude hat tausend
Pockennarben abbekommen, die Mauer berieselte
Ziegelblut. In Petersburg haben die Geburtswehen
nur drei Tage gedauert, in Moskau
tobte der Kampf zehn Tage hindurch, und in
dieser Frist entschied sich das Schicksal der Welt.
Moskau lebt sein zähes Leben, während Petersburg
tot ist. Die Zusammenziehung sämtlicher
Ämter des Landes hat eine Hochflut von Menschen
über Moskau ausgegossen, die zwischen den
Mauern brandet und nicht zur Ruhe kommt. Ein
anderer Menschenschlag ist es, der einem in
Moskau begegnet, als der von Petersburg es ist.
Plätze, Straßen, Theater, Versammlungen haben
ein anderes Gesicht. Hier sprenkeln nicht Überreste
der ehemaligen Bourgeoisie das Arbeitervolk
, sondern es macht sich ein stark bürgerlicher
Einschlag bemerkbar, ein Element, das sich mit
sicherem Nachdruck zu regen und geltend zu
machen strebt, und dessen Dominieren zuweilen
dem Grundcharakter des sozialistischen Staatswesens
Hohn spricht.
Man leidet in Petersburg wie in Moskau — aber
ich glaube, in Moskau vollzieht sich das Leiden insgeheim
doch in wütenderen Formen, widerspruchsvoller
, erbitterter und gefährlicher. Die Kleider, die
die Menschen abtragen, sind noch gut; sieben Jahre
oder drei haben sie nicht zu Fetzen zerrissen.
Auf den Promenaden, den Boulevards, die in kon-
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