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geführt werden müssen — Rückkehr zu dem
Wesen mittelalterlicher Hausindustrie, wie man
sieht I---
Einmal hatte ich Gelegenheit, einen aus der
ehemals mächtigsten Oberschicht der Bourgeoisie
stammenden Patrizier in seinem Heim und bei
seinen Beschäftigungen zu sehen und zu beobachten
. Da steht vor meiner Erinnerung ein
alter Mann auf, ein Mordskerl, ein durch Ererbung
, Lebensumstände und den bestimmenden
Zug der Zeit auf die Höhen der Macht gehobener,
jetzt mit einem Hieb in die Tiefe geschleuderter
Herrenmensch, der auf seine Weise im Kampf
mit dem Schicksal sich zu behaupten sucht und
es auch zuwege bringt.
Er empfing uns auf dem Gut, das ehemals ihm
gehört hat, und als dessen Verwalter er belassen
wurde: ein hochgewachsener, kerzengerader
Greis von etwa siebzig Jahren, so stand er auf
der Veranda seines Landhauses, au£ dessen Fenstern
fremde, dort einquartierte Proletarierfamilien
blickten, und um das das herrliche Herbstland
des Moskauer Gebietes sich farbig und warm erstreckte
. Der Alte stand in seinem abgeschabten,
von Erde und Baumharz fleckigen Kittel, in Bastschuhen
über derben Socken vor uns. Er sah mit
rasierter Oberlippe aus wie ein Amerikaner. Er erzählte
uns auch sogleich, wie er dazu gekommen
war, seine Oberlippe zu rasieren: er war nämlich
erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen
worden, in das man ihn — wohl wegen irgendwelcher
Verabredungen und Zusammenkünfte mit
ehemaligen Millionärsgenossen und sonstigen Gegenrevolutionären
derselben Gesellschaftsschicht—
für vier Monate eingesperrt hatte. Im Gefängnis
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