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die vielen Tausende von Heiligenbildern und
Altärchen, die an allen Häuserfassaden und
Straßenecken angebracht sind, halten die Bevölkerung
in einer fortwährenden religiösen Erregung,
welche sich sichtbar darin manifestiert, daß die
rechte, das Kreuz beschreibende Hand niemals
in die Tasche kommt, sondern auf einer fortwährenden
Wanderung zwischen Stirn und Brust,
rechter und linker Schulter begriffen ist. Ich bin
einmal von meinem Hause bis zum Auswärtigen
Amt einem Muschik nachgegangen und habe gezählt
, wie oft er auf diesem Wege das Kreuz geschlagen
hat. Vor einzelnen Kirchtürmen und
Ikonen zählte ich fünf bis neun Bekreuzigungen;
die Gesamtzahl anzugeben, bin ich heute nicht
mehr imstande.
Man kann in den Kirchen und Kapellen Rußlands
Menschen sehen, die einhalbhundertmal
nacheinander mit derselben Geste vollendeter
Hingabe die kotbedeckten Fließen, ein paar
dutzendmal die fleckigen Scheiben an den Stellen,
wo unter dem Glas die Hand, die Füße, Stirn
und Mund der Madonna und des Kindleins sich
befinden, mit inbrünstigen Küssen bedecken. Die
Kirchen sind heilige Honigwaben, jede Wabe ist
ein in Gold gefaßtes und mit Edelsteinen kostbar
geschmücktes Ikon eines der unzähligen Heiligen
der byzantinischen Kirche. Und inmitten
dieser goldenen Waben bewegen sich, agieren
und zelebrieren goldgewandete Fakire, ertönt das
monotone Geleier des Vorbeters, der die sakramentalen
Worte:
„Gospodi pomiluj!"
,,Herr, erbarme dich unser!" zehndutzendmal
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