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einsehen Charakter dar, nur sehr selten wird ein Kind, und dann doch nur in den späteren Jahren,
nicht aber als Säugling und in den ersten Lebensjahren, den geistigen Typus des Erwachsenen an
sich tragen. Im Geschlecht gibt es schon häufigere Ausnahmen. Nicht selten ist eine Frau männlich
, ein Mann weiblich organisirt, physisch und psychisch, mehr oder weniger, ja man darf sagen,
in geringem Grade last regelmässig; wenigstens ist bei civilisirten Völkern der Geschlechlstypus
kaum je durch den ganzen Körper oder Geist vollkommen rein ausgesprochen. Die grosse Man-
nichfalligkeit, welche den Formen eines hoch entwickelten Volkes eigen ist, entsteht theilweis durch
die vielfachen UcbergäriÄC zum andern Geschlechte und die meisten Männer oder Weiber sind in
diesem Sinne wirklich Zwitter. Dass aber bei Rachen und Völkern noch mehr als bei den zwei
Geschlechtern Ausnahmen von ihrem Nationalcharakter vorkommen werden, lässt sich aus ihrer Vermischung
mit anderen, aus der Einwirkung des Klima, aus ihrer veränderten Lebensart und aus ihren
Schicksalen schliessen. Die Aufstellung von anthropologischen Gesetzen wird daher hier auf um so
grössere Schwierigkeilen stossen, als die Zahl der auch selbst in den reichsten anatomischen Museen
disponiblen Nationalschädel (von Nationalismen schweigt bis jetzt fast ganz die Wissenschaft) ver-
hällnissmässig unter diesen Umständen sehr gering ist, diese überdies nicht immer sicheren Ursprungs
seyn möchten und ihr Geschlecht sehr oft nicht bemerkt ist, so dass das geschlechtliche Moment in
Collision mit dem Nationaltypus kommen und denselben verwischen kann.
Nach diesen zum ersten Male versuchten Gesichtspunkten bin ich von Aussen nach Innen fortgeschritten
, habe den Schädel vorangehen, das Hirn nachfolgen lassen^ Aus den vielen Schädelmessungen
geht nebenbei hervor, dass jeder Schädelknochen, ja selbst eine einzelne Gegend desselben,
neben den allgemeinen ihre besonderen Gesetze in Wachsthum und Abnahme und Gestaltung auch
nach der Geburt besitzt und keineswegs gleichmässig, gewissermaassen wie eine Blase, sich ausdehnt
und zusammenzieht. Ihr Wachsthum per intussuseeplionem ist auch nach Schliessung der
Nähte ungleich vertheilt, selbst in den einzelnen Stücken eines solchen Knochens, sie wachsen fort
nach ihren eigenen und des Hirns Bedürfnissen.
Meine Untersuchungen über das Hirn stehen in genauer Verbindung mit denen des Schädels
und ihre Resultate offenbaren grösstenteils eine innige Übereinstimmung mit den osteologischen Ergebnissen
. Endlich habe ich das Werk mit einem psychologischen Abschnitte beschlossen, worin
ich meine allgemeinen und besonderen Ansichten über die Verbindung des Geistes mit dem Körper
entwickelt und auf die Resultate der Anatomie und Physiologie gegründet habe. Theilweis habe ich
hier forlgebaut auf meine Theorie der Sinne und ein älteres psychologisches Fragment, insofern die
Sinne die Vorhalle des höheren geistigen Lebens sind, worin schon alle Einrichtungen im Tempel
des Geistes nach dem Prototypus des Allerheiligsten gegeben und offener hingestellt sind, so dass
man auf dieser sinnlichen Grundlage die höheren Stockwerke aulführen kann. Zimmer und Kammern
und ihr Gerälh aber habe ich nur berührt, vielfach weggelassen, da das nöthige Material dazu noch
nicht vorhanden ist. Mein Streben ging auch hier vor Allem dahin, die Einheit des Planes zwischen
beiden Reichen des Lebens aufzufinden. Wo dies nicht ganz gelungen, das Gemälde noch bizarr
aussehen sollte, mag der Stand der Wissenschaft und diese zum Grunde liegende Idee notwendiger
Einheit und die Ueberzeugung des Verfassers erklärend und entschuldigend entgegentreten, ihren Com-
pass und ihr Steuerruder nie aus der Hand zu lassen, ohne welche unser naturwissenschaftliches
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