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aus man, gerüstet mit den hier gewonnenen Resultaten, dann immer weiter in das Detail dieser com-
plicirlen Organe fortzuschreiten und einzudringen versucht, bis endlich die Forschung ihre Grenze in
dem Netze anatomischer Molecüle und in den chemischen Atomen findet. Um eine solche Untersuchung
anzubahnen, will ich hier einige geschlechtliche Eigenthümlichkeiten der Windungen des grossen
Gehirns beschreiben und der öffentlichen Prüfung unterwerfen.
Schon Gall *) machte die Bemerkung, dass beim weiblichen Geschlechte .der Hinterlappen grösser
sey. Diese schon aus dem Schädelbau hervorgehende Geschlechtseigenthümlichkeit erscheint noch
schärfer, sobald man in den Windungen einen Orientirungspunkt gefunden hat.
Man richte vor Allem daher zuerst seinen Blick auf die CentralWindungen, um von diesem
Orienlirungspunkte aus das Chaos weiblicher und männlicher Gyri zu beurtheilen.
Man wird finden :
1) dass im Weibe durchschnittlich die Centraifurche und somit auch die sie begleitenden Central
Windungen senkrechter stehen, als im Manne,
2) vorzüglich aber, dass der Abstand ihres oberen Endes vom hinteren Ende der Hemisphäre
im weiblichen Gehirn verhältnissmässig grösser ist, als im männlichen. An Wachsabgüssen, die ich
fertigte, verhielt sich die Entfernung des sulcus centralis
vom vorderen : hinteren Ende
beim Weibe 59 : 130 Mill. = 31,3 : 68,7$,
— Manne 88 : 113 — = 43,9:86,1».
Also liegt beim Manne weit mehr Hemisphäre vor dem sulcus centralis, beim Weibe hinter
demselben. Dies Ergebniss der äusseren Messung an den Centraiwindungen, das übrigens, wie
alle Geschlechlseigenschaften, Schwankungen unterworfen ist, stimmt überein mit dem der Messung
an der inneren Fläche der Hemisphäre, wonach beim Weibe das HinterdemBalken mehr bedacht
ist, als beim Manne, der sich seinerseits wieder durch das YordemBalken auszeichnete.
Daraus folgt dann weiter, dass im weiblichen Hirn die von der hinteren Centralwindung
auslaufenden Windungszüge entwickelter seyn werden, am männlichen Gehirn dagegen die vom
vorderen Centraiwulst entspringenden. In der That gewahrt man leicht, dass am weiblichen Gehirn
das Scheitelhöckerläppchen und das dahinter liegende hintere äussere Scheitelbeinläppchen, auch
der Vorzwickel, verhältnissmässig, ja selbst absolut grösser und complicirter sind, beim Manne hingegen
bewirkt die schiefere Lage der Centraifurche, dass die von der vorderen Centraiwindung abgehenden
Windungen länger werden.
Inwiefern noch andere Windungen betheiligt sind, habe ich vor der Hand nicht zu erforschen
gesucht. Eine feinere Methode, zu messen, als den Zirkel, habe ich nicht in Anwendung bringen
können, ich bin aber noch damit beschäftigt, ein Instrument dazu zu construiren. Urtheilen wir nach
den Ergebnissen der Schädelmessung, so möchte beim weiblichen Geschlechte auch das Interparietal-
hirn mit den von mir beschriebenen Windungen bevorzugt seyn und sich dafür beim Manne eine
grössere Entwicklung der vorderen Züge, und besonders des ersten derselben, erwarten lassen, weil
von der Ausbreitung dieses Zuges die Breite der Stirn abhängt. Auch über den Schläfenlappen verdienen
genaue Beobachtungen angestellt zu werden, da die Schlaf beinschuppe beim Manne verhältnissmässig
grösser war, beim Weibe dagegen der grosse Flügel.
Urtheile ich nach etwa 12 Wachsabgüssen von männlichen und weiblichen Hirnen, so ist in der
That dort der erste und zweite Zug des Vorderhirns mehr entwickelt, beim Weibe hingegen
zeichnet sich meist der obere oder dritte Zug durch Breite aus. Man kann darin eine gewisse
Uebereinstimmung mit den zwei entgegengesetzten Ordnungen der Säugethiere finden, den Herbivoren
und Carnivoren. Bei diesen ist der erste Zug verhältnissmässig bevorzugt, bei jenen der dritte und
vierte. Die Raubthiere repräsentiren in ihrem Charakter das männliche, die Wiederkäuer das weib-
1) SysUme III. 160.
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