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ist erst vollkommen wahr. Zu ihrer Enträthsekmg gehört aber der scharfsinnigste Geist und das
scharfsichtigste Auge, und Jahrhunderte werden vergehen, ehe der Copernicus erscheint, der die
Sonnen- und Planetenbahnen unseres geistigen Organismus regelt. Wir finden im Gehirn Berge und
Thäler, Brücken und Wasserleitungen, Balken und Gewölbe, Zwingen und Haken, Klauen und Am-
monshörner, Bäume und Garben, Harfen und Klangstäbe, wie wir am Himmel Löwen und Bären,
Schwäne und Adler, Drachen und Schlangen, Fische und Scorpione sammt der ganzen Mythologie
antreffen. Alles Namen, und wiederum Namen ohne Bedeutung! Niemand hat die Bedeutung dieser
sonderbaren Gestallen erkannt, kein Mathematiker selbst ihre Curven berechnet. Es ist ein Werk,
würdig eines Copernicus, aber schwieriger als das seinige. Copernicus und Kepler enlräth-
selten die Bewegungen der Gestirne und sie konnten, wie die dankbare Nachwelt, mit ihrem Werke
zufrieden seyn. Aber sie vermochten eben nur die Bewegungen der Gestirne zu regeln, nicht die
Bedeutung dieser Körper für den Weltgeist auch nur zu berühren. Hier, am Hirn, führt uns die
schwingende Bewegung des Nervenälhers, dessen Statik und Dynamik wir in der Hirnfaserung erforschen
, nofhwendig sogleich auf die Frage nach ihrer psychologischen Bedeutung, ohne welche
ihre Untersuchung mindestens die Hälfte ihrer Anziehungskraft verlieren würde, gleichwie wir am
kunstvollen Bau des Auges vorzüglich dadurch ein lebendigeres Interesse gewinnen, dass wir seine
dioplrische Einrichtung in Beziehung bringen zum Sehen, zur Empfindung, d.h. zum geistigen Leben.
Indem ich nun nach Durchmusterung der verschiedenen BegrhTe der Seele, die man nicht selten
mit einander zu verwechseln pflegt, zu dem Sitze einzelner Seelenthäligkeiten übergehe, muss ich
doch sogleich bemerken, dass ich es nur in den allgemeinsten Verhältnissen und nur so weit zu thun
beabsichtige, als der vorliegende Gegenstand und die vorliegenden Untersuchungen es erlauben. Sodann
wiederhole ich es, dass es zwei Weltordnungen oder zwei Erscheinungsweisen unserer Seele
(im allgemeinsten Sinne) gibt, die so wenig in einander übergehen, dass sie zunächst auch wissenschaftlich
möglichst aus einander gehalten werden müssen, die körperliche, physiologische Erscheinung
und die geistige, psychologische, ehe man zu ihrer wissenschaftlichen Wiedervereinigung schreitet, die
sie in der Wirklichkeit doch auch nicht verkennen lassen. Von einem Uebergange der körperlichen
Thäligkeit, z.B. einer elektrischen Entladung in einen Gedanken, zu reden, würde ich daher für einen
Wahnsinn halten, ja selbst jede unmittelbare Einwirkung eines Gedankens auf eine körperliche
Thätigkeit, oder umgekehrt, halte ich demgemäss für unmöglich, da bei einer körperlichen Einwirkung
auch nothwendig die Ursache selbst mit ihrer körperlichen Natur in die geistige Thätigkeit, worauf
jene wirkt, übergehen müsste, gemäss dem Gesetze von Ursache und Wirkung — welchen Ueber-
gang eben uns zu denken unmöglich ist, auch bei dem höchsten oder dem niedrigsten Fluge der Phantasie
, ganz abgesehen davon, dass jeder Gedanke, der doch mit dem vorhergehenden in ursächlichem
Verhällnisse steht, dann zwei Ursachen haben würde, die Hirnbewegung und den vorhergegangenen
Gedanken, wovon jede den Anspruch macht, hinreichende Ursache des folgenden, eben auftauchenden
Gedanken zu seyn.
Die ganze Betrachtung eines organischen Wesens zerfällt also in eine dreifache, in die Lehre
von der körperlichen, in die Lehre von der geistigen Seite desselben und endlich in die Lehre
von der Verbindung beider, welche alle drei eine besondere Behandlung erfordern. Die erste
ist der Gegenstand des Naturforschers und des Physiologen insbesondere, die zweite gehört der
Idealphilosophie zu, und die Priester, welche die gesetzliche Einheit von Körper und Geist festzuhalten
haben, will ich die Naturphilosophen nennen. Freilich greifen diese zwei entgegengesetzten
Seiten unseres Lebens auf das Mannichfaltigsle in einander ein, so dass die sinnliche Welt,
die Welt der Bewegungen, selbst einen Theil unserer Gedankenwelt ausmacht und nur durch Ab-
straction als eine dem Gedanken parallel laufende besondere Körperwelt erkannt und geschieden wird;
demungeachtet ist es im Allgemeinen besser, wenn die Geometrie unseres Lebens von seiner ästhetischen
Welt wissenschaftlieh mögliehst geschieden entwickelt wird.
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