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I. Das grosse Gehirn.
1) Viele Tausende von kleineren und grösseren Elementen existiren im Gehirn. Im Kiemen sind
es die zahllosen Ganglienkugeln, im grössten Maassstabe aber sind es die beiden Hemisphären
des grossen Gehirns, zwei colossale Plattenpaare der cerebroelektrischen Ströme.
Sowie überhaupt ein Organ vollkommener sich entwickelt, geht es in eine Zweiheit aus einander
oder es polarisirt sich. Diese Zweiheit ist aber zunächst nur eine Theilung in zwei gleiche Hälften
oder, mit anderen Worten, die Duplicität ist eine symmetrische. So haben wir zwei Arme und
Beine, zwei Augen, Ohren, Nasenhöhlen u. s.w. Die functionelle Folge davon ist aber eine Zunahme
, eine grössere Intensität ihrer Thätigkeiten. So auch am Hirn. Die Hirnthätigkeit wird
verdoppelt durch die zwei Halbkugeln, ohne dass die Einheit der Wirkung dadurch verloren
gehl, bei aller Verdoppelung auch seiner Thäligkeil. Wir dürfen nicht glauben, dass es einen einzigen
Punkt giebl, Einen Mittelpunkt des grossen Gehirns, wo unser Ich seinen besonderen Sitz aufgeschlagen
hätte. Wie wir mit zwei Augen einfach sehen, mit zwei Ohren zwar doppelt hören, aber
dennoch nur eine einfache Empfindung haben, so denken wir auch doppelt, so paradox dies auch klingt,
in der rechten wie linken Halbkugel unseres grossen Gehirns. Beide sind aber durch die Balkenfa-
serung so vollkommen und innig verbunden, dass die doppelten Gedanken in Ein einziges psychisches
Gemälde zusammenüiessen, das an Schärfe und Farbenschmelz durch die Verdoppelung seiner selbst
nur gewinnen muss, gleichwie wir schärfer und ausgedehnter sehen mit zwei Augen und besser hören,
wenn beide Ohren thälig sind. Das schärfste, klarste, angestrengteste Denken erfordert das Zusammenwirken
beider Hemisphären. Zerstreutheit unserer Gedanken ist begleitet von einer unwillkürlichen
Abwechselung verschiedener Hirnorgane ohne die nöthige Einheit, und ein krankhafter Mangel an dieser
Einheit kann sich in der Sphäre der Intelligenz bis zur Verwirrung und in der Sphäre des Gemülhes
bis zur Verzweiflung steigern. Es ist nicht in Abrede zu stellen, dass wir bald rechts, bald links Gedanken
oder Gefühle haben können, wie wir bald das rechte, bald das linke Auge gebrauchen. Wenigstens
lehrt die Erfahrung, dass bei grossen Zerstörungen und Atrophieen in Einer Halbkugel das
Denkvermögen dennoch, wenn auch geschwächt, fortbestehen kann; es ist aber gänzlich aufgehoben,
sowie beide Halbkugeln grosse Verluste erleiden.
Man kann aber fragen, warum giebt es nicht mehr als zwei Elemente an dieser grossen Hirnbatterie
, da sich ja mit ihrer grösseren Zahl auch eine intensivere Wirkung derselben verbinden müsste?
Die Antwort hierauf isl immer wieder das Gesetz der Polarität. Bei aller möglichen Gleichheit beider
Hemisphären liegt in ihrer Zweiheit doch immer wieder der Ausdruck eines qualitativen Gegensatzes
, wie es jede Wechselwirkung zu erfordern scheint, eines + und eines — Pols. Die eine
Hemisphäre isl wahrscheinlich positiv, die andere negativ neuroelektrisch. Damit wird aber auch die
blosse Zweiheit dieser Elemente erklärlich und sogar nothwendig und eine grössere Vielheit ausgeschlossen
. Auch muss man bedenken, dass die grosse Hirnbatterie, gleich allen unseren organischen
Apparaten, vollkommener eingerichtet ist, als die physikalischen Säulen. Hier haben wir immer
gleiche Elemente, auch bei den grössten Batterieen. Dort hingegen steigert sich die Grösse und
Mannichfaltigkeil der Elemente von den Haufen verschiedener moleculären Plattenpaaren der Ganglien-
kugeln herauf bis zu den grossen Hirnganglien und den Hemisphären selbst. Es wäre die Aufgabe
der Physik, diese schöne Einrichtung unseres Organismus nachzuahmen und dadurch viel vollkommener
zusammengesetzte Säulen aufzubauen. Wie das Auge das nicht erreichte Vorbild für alle dioptri-
schen Instrumente ist, unser Stimmorgan von keinem Saiten- oder Blasinstrumente erreicht wird, so
sollte man für die weitere Eniwickelung der Elektricilätslehre seinen Blick richten auf den wundervollen
galvanischen Apparat des Gehirns und daraus neue mechanische Ideen schöpfen. Freilich müsste
man mit solchen organisirten Säulen nicht Felsen sprengen oder in alchimistischem Bestreben Metalle
schmelzen und zersetzen wollen, aber die Feinheit und Mannichfaltigkeil ihrer Wirkung würde auf
Kosten der rohen quantitativen Krafläusserung voraussichtlich gewinnen.
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