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Was eigentlich eine Nachahmung sei, ist die erste
Frage, die behandelt wird. Für alles Mehrfache, dem
wir einen gemeinschaftlichen Namen geben, pflegen wir
einen Begriff aufzustellen. So gibt es viele Betten und
Tische, aber nur einen Begriff „Bett" und einen Begriff
„Tisch". Jeder Verfertiger von Tischen und Betten blickt
nun auf die Begriffe. Was würde man aber zu einem
Arbeiter sagen, der nicht nur behauptete, alle Geräte
machen zu können, sondern auch alle Pflanzen und Tiere,
Himmel und Erde, Götter und alles, was sich im Himmel,
unter der Erde oder im Hades befindet. Dieses wäre
nach Piatos Urteil doch wohl ein wunderlicher Sophist
(Staat 596 D). Doch wäre dieses z. B. vermittelst eines
Spiegels möglich. Auf diese Weise würde aber nur der
äußere Schein und nicht die Wahrheit wiedergegeben
(Staat 596 E). Mit diesem Schein begnügen sich nun
nach Piatos Urteil gewisse Maler, sie verfertigen eben
keinen wahren, sondern einen scheinbaren Stuhl.
Selbstverständlich ist hier nicht die Rede von einer
Malerei, so wie sie in den Gesetzen (668 D) und im
vorhergehenden (Staat 401 A) erwähnt worden ist.
Wir haben drei Arten von Stühlen: einen in der
Natur seienden, den ideellen Stuhl, von dem man behaupten
könnte, die Gottheit hätte ihn gemacht; einen
Stuhl, so wie der Handwerker ihn verfertigt; und endlich
einen vom Maler gebildeten (Staat 597 B). In dieser
Reihe steht der Maler als dritter von dem in der Natur
seienden entfernt (Staat 597 E), denn er versucht nicht,
den in der Natur seienden Stuhl nachzuahmen, sondern
die Arbeit des Handwerkers (Staat 598 A). Und auch
diese wieder nicht wie sie ist, sondern wie sie erscheint,
denn er gibt den Stuhl nicht in einer allgemeinen Form,
sondern in einer zufälligen Stellung wieder, er ahmt also
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