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was wir in dem Sophisten gesehen haben. Durch den
Gesichtssinn erscheint uns dieselbe Größe ungleich, je
nachdem wir sie von der Nähe oder aus der Ferne betrachten
(Soph. 235); dieselben Sachen scheinen krumm
oder gerade, wenn man sie innerhalb oder außerhalb
des Wassers sieht (vgl. Yitruv 139 12 ff. similiter in
navibus remi cum sint sub aqua direcli, tarnen oculis
inf'racti viclentur usw.), und auch hohl oder erhaben kann
etwas durch Augentäuschung betreffs der Farbe erscheinen
. Diese Verwirrung dringt natürlich auch in
unsere Seele ein. Auf diesen Zustand ist nun die Kunst
der Täuschung (axw.7po/tia) berechnet und bleibt also nicht
hinter Zauberei und Taschenspielerei zurück. Wir besitzen
hiergegen aber ein schönes Hilfsmittel in dem
Messen, dem Zählen und dem Wägen, so dass das
scheinbar Größere, Kleinere, Mehrere oder Schwerere
keine Herrschaft über uns ausüben kann, sondern das
Rechnende, Messende oder Wägende. Doch dieses letztere
•
gehört zum vernünftigen Teil unserer Seele, und da nicht
dasselbe zu gleicher Zeit von demselben entgegengesetzt
urteilen kann, so müssen wir, wenn irgend etwas im
Widerspruch zu dem erscheint, was wir ausgemessen
haben, annehmen, dass dieses die Wirkung des Schlechteren
in uns ist. Also als Schlechtes sich mit Schlechtem
verbindend, erzeugt diese Kunst der Nachahmung schlechte
Sachen (Staat 602 C. D. E. 603 A).
Ebendies wird nun von der Dichtkunst nachgewiesen
, wo es sich aber weniger um Sinnestäuschungen
als um moralische Irrtümer handelt. Was hier den
Täuschungen der Leidenschaft entgegenstrebt, ist nicht
das Messen usw., sondern Vernunft und Gesetz (Staat
604 A. B). Der nachahmende Dichter wird hier als
Gegenstück zu dem Maler betrachtet, auch er macht
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